Land in Sicht!? Soziokultur als Landlebensgestaltung und Modell für die Regionalentwicklung.
<p><strong>In bunten Bildern zeichnen</strong> die Gazetten der Bahnhofsbuchhandlungen das Landleben als Inbegriff von Idylle. Konzerte in Gutshöfen, Orgelfestivals in Dorfkirchen, Kunstpfade im Grünen boomen. Das Land als pittoreske Kulisse von Kunst und Lifestyle wird als Sehnsuchtsort eines urbanen Bürgertums gefeiert. Daneben vielfältig und weitgestreut die Breitenkultur als traditionelle Form ländlicher Kultur. In Amateurtheatern und Gesangsvereinen, bei Stubnmusi
In bunten Bildern zeichnen die Gazetten der Bahnhofsbuchhandlungen das Landleben als Inbegriff von Idylle. Konzerte in Gutshöfen, Orgelfestivals in Dorfkirchen, Kunstpfade im Grünen boomen. Das Land als pittoreske Kulisse von Kunst und Lifestyle wird als Sehnsuchtsort eines urbanen Bürgertums gefeiert. Daneben vielfältig und weitgestreut die Breitenkultur als traditionelle Form ländlicher Kultur. In Amateurtheatern und Gesangsvereinen, bei Stubnmusi und im Schützenverein wird regionales Brauchtum gepflegt und Geselligkeit erlebt. Was hier fehlt, erschließt sich nicht auf den ersten Blick.
Auf den zweiten Blick: Von lebendiger und zeitgemäßer Kulturarbeit sind viele ländliche Räume weit entfernt. Die Events der eingeflogenen Hochkultur sind urbane Inszenierungen. Die auf Kontinuität und Traditionswahrung angelegte Breitenkultur leidet unter den Auswirkungen eines immer schnelleren gesellschaftlichen Wandels. Unverändert weitergeführt, kommt diese Form ländlicher Kulturarbeit an ihre Grenzen.
Das Bild der desolaten Situation der kulturellen Bildung auf dem Land ist nicht neu. Bereits in den späten 1970er Jahren begann die Berichterstattung über Forderungen nach einer neuen „Provinzkultur“ im deutschsprachigen Raum. Die links-alternative Szene, KünstlerInnen und Kulturschaffende entdeckten schon damals das Land als Möglichkeitsraum, in dem sich ihre Vorstellungen und Ideen zur innovativen Lebensweltgestaltung modellhaft erproben ließen.
Inzwischen ist „das Land“ erneut in den Fokus von Politik und Forschung gerückt. Die Suche nach Modellen gesellschaftsgestaltender Kulturarbeit in ländlichen Räumen nimmt spürbar zu und schlägt sich nieder in Forschung, Publikationen, Modellversuchen und Projektvorhaben. (Vgl. Schneider 2014; Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2015; Stiftung Niedersachsen 2015; www.encc.eu)
„Den“ ländlichen Raum gibt es nicht
Patentrezepte für „die“ Kulturarbeit ländlicher Räume sind dabei kaum zu erwarten, ebenso wenig wie es „den“ ländlichen Raum gibt. Vom prosperierenden Dorf im ländlichen Speckgürtel Wiens bis hin zu den zerfallenden Geisterdörfern in den dünn besiedelten Räumen Brandenburgs reicht die Vielfalt ländlicher Lebensräume.
Dringenden Handlungsbedarf sehen RaumplanerInnen vor allem dort, wo die Pendlerentfernungen zum nächsten urbanen Zentrum eine mehr als einstündige Anfahrt erfordern. Armut, Überalterung und Bildungsrückgang sind dort allgegenwärtig. Die Rettung kann hier nicht mehr in der Attraktivitätssteigerung der Dörfer durch pfiffige Kulturangebote liegen, es muss vielmehr darum gehen, die Menschen zur Gestaltung des Wandels in den Lebensräumen zu befähigen, für die die Aufrechterhaltung von gleichwertigen Versorgungsleistungen und grundlegender Infrastruktur nicht mehr dauerhaft mit den zur Verfügung stehen den Mitteln gewährleistet werden wird. Die DemographInnen empfehlen dazu mit Nachdruck die Stärkung ehrenamtlicher Strukturen und Wiederbelebung der jahrhundertealten Dorfkultur traditioneller Nachbarschaftshilfe. (Vgl. Bertelsmann-Stiftung 2014)
Breitenkultur als identitäts- und gemeinschaftsbildender Faktor?
Also doch die Breitenkultur stärken? So „verstaubt, überholt und fern künstlerischer Qualität“ sie gemessen an Qualitätskriterien einer urbanen Kunstszene und der professionellen Kunstvermittlung auch sein mag, im besten Fall leistet sie Beiträge zu einer regionalen Identitätspflege, ist ein traditionelles Instrument der Gemeinwesenarbeit, schafft Begegnungs- und Erfahrungsräume und sorgt für die generationsübergreifende Tradierung von Wissen und Handlungskompetenz.
Erste Studien zur Breitenkultur machen allerdings deutlich, dass es zwar durchaus herausragende Modelle einer zeitgemäßen Breitenkultur gibt, diese in entlegenen ländlichen Räumen auch eher rar sind (vgl. Götzky/Renz 2014: 41).
Kein Land in Sicht?
Es lohnt sich, dort hinzuschauen, wo das Land- und Dorfleben trotz allem lebendig erscheint. Es gilt, genauer unter die Lupe zu nehmen, wie „lebendige“ Kulturarbeit jenseits urbaner Räume aussehen könnte und welche Wirkungen sie auf die Gestaltung des Wandels haben kann.
Da sind zum Beispiel …
Vera und Peter Henze auf dem Hof Arbste im norddeutschen Niemandsland irgendwo bei Bremen. Der historische Backsteinhof ist inzwischen nicht nur Wohnort, sondern auch Dorfkulturzentrum. Die Tiere des Hofes sind häufig die ersten „KontaktvermittlerInnen“. Wenn der Alt-Bauer aus dem Nachbardorf am Gatter stehen bleibt, um dem stolzen Wollschweineber das Nackenfell zu kraulen, dann entwickelt sich so ganz nebenbei ein Gespräch über das, was die Qualität eines nachhaltig wirtschaftenden Lebens auf dem Land sein könnte, welche Herausforderungen es gibt, was man tun könnte … Es braucht nicht viel, um die Ideen dann auch ein Stück weit gemeinsam zu erproben. Die Kulturarbeit liefert den spielerischen Rahmen, die DorfbewohnerInnen das Lokalwissen. Der Hof wird zum Zukunftslabor. „Die Dorffrauen treffen sich inzwischen regelmäßig und haben begonnen, eigene Texte über das Leben auf dem Land zu schreiben“, berichtet Vera Henze und blättert mit unübersehbarem Stolz auf „ihre spinnenden Dorfweiber“ im jüngst veröffentlichten Werk der Gruppe. Der Theatermacher Peter Henze ist derweil schon wieder unterwegs. Mit KundInnen der örtlichen Tafel, MitarbeiterInnen und den DorfhonoratiorInnen spielt er seit einigen Jahren im Nachbarort Theater, ermutigt sie erfolgreich, das, was sie bewegt, auf die Bühne und auf die Straße zu bringen, mit ihrem künstlerischen Tun in die Öffentlichkeit hineinzuwirken.
Da ist zum Beispiel …
Theartic e.V., ein Verein in Emden, einer eher überschaubaren Stadt an der ostfriesischen Nordseeküste. Seit seiner Gründung widmen sich die engagierten AkteurInnen dort der gleichberechtigten künstlerischen Arbeit mit sogenannten Behinderten und sogenannten Nichtbehinderten auf die Fahnen geschrieben. Rund 120 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit und ohne geistige, körperliche und seelische Behinderungen aus verschiedenen Herkunftsländern und Lebenssituationen spielen hier unter professioneller Leitung Theater, singen im Chor und musizieren bei „ThearticStomp“, dem Percussionensemble, das mit allerlei Haushaltsobjekten musikalische Experimente wagt. Inklusion ist für Theartic und die Menschen im Umfeld des Vereins inzwischen kaum mehr bemerkenswerte Herausforderung, sondern vor allem selbstverständlich gelebter Alltag.
Da ist zum Beispiel …
Festland e.V., ein Verein im 70-Seelen-Dorf Klein Leppin. Entgegen aller Prognosen haben es der kleine Verein und seine engagierten AkteurInnen geschafft, ein ganzes Dorf nachhaltig zu mobilisieren, um Jahr für Jahr Opern in einem gemeinsam umgebauten Schweinestall zu inszenieren. Längst sind die Opernprojekte zur festen Dorftradition geworden, an der sich Jung und Alt beteiligt. Das Dorf und seine ungewöhnlich aktiven und experimentierfreudigen BewohnerInnen sind inzwischen längst über die Region hinaus bekannt. So viele Ideen gilt es noch zu verwirklichen – trotz allgegenwärtiger Bildungsabwanderung, steigender Armutsquote und vermeintlich hoffnungsloser Überalterung in der vom demographischen Wandel extrem geprägten Region.
Diese und viele andere SoziokulturakteurInnen auf dem Land vereint der Wille zu einer permanenten Suche nach einer zeitgemäßen Kulturarbeit, die sich wertschätzend, neugierig und mit großem Engagement aufmacht, mit den Menschen vor Ort Gesellschaft immer wieder neu zu gestalten – gemeinsam mit denen, die seit eh und je dort waren, mit denen, die neu dazukommen und mit denen die „eigentlich“ gehen wollen. Als „Hofnarren“ und „Spinner“ verschrien, als „Raumpioniere“ staunend wahrgenommen, haben sie sich kein leichtes Ziel gesetzt. Der Schlüssel zu erfolgreicher Soziokultur am Land mag dabei darin liegen, dass die KulturarbeiterInnen sich nicht als diejenigen verstehen, „die das Füllhorn der (Hoch-)Kultur auf die vermeintlich ungebildeten DörflerInnen ausschütten und ihnen so zum Glücke verhelfen …“ Nein, es geht der Soziokultur um eine Kulturarbeit auf Augenhöhe, um eine Kulturarbeit, die das Kennen und sich Kümmern hochschätzt und Menschen in immer neuen Konstellationen zu gemeinsamem Kulturschaffen zusammenbringt, dabei mit kritischen Blick und einer guten Prise Humor auf aktuelle und zukünftige Herausforderungen schaut und die vielfältigen Kompetenzen der Menschen vor Ort schätzt und einbezieht. Die Qualität der Arbeit bemisst sich in der Soziokultur dabei nicht an der künstlerischen Bühnentauglichkeit oder dem internationalen Ranking in künstlerischen Wettbewerben, sondern vielmehr an der – schwerer messbaren – Wirkungskraft für die jeweilige Regionalgesellschaft und deren Entwicklung.
So modellhaft die Soziokultur für die Regionalentwicklung identifiziert werden kann, so abenteuerlich erscheinen auch die Überlebensstrategien der AkteurInnen. Mit einem atemberaubenden Mix aus Freiberuflichkeit und Ehrenamt, ermüdender Projekt mittelakquise, minimalen Ausgaben und viel Gottvertrauen, versuchen die AkteurInnen, ihre Existenz zu sichern. Die meist kleineren und eher unspektakulären lokalen Projekte haben es schwer, im Wettbewerb um Projektgelder zu bestehen. Projektanträge zu konzipieren, Nachweis- und Evaluationsauflagen nachzukommen und entsprechende Lobbyarbeit zu leisten stellt die oft ehrenamtlich und in kleinen Teams agierenden AkteurInnen vor große Herausforderungen. Eine institutionelle Förderung zu gewährleisten ist den kleineren Landgemeinden häufig schlichtweg unmöglich. Auf Länder- und Bundesebene herrscht nach wie vor eine stark an urbanen und künstlerischen Qualitätskriterien orientierte Kultur- und Fördermittelvergabepolitik vor. Glücklicherweise geben die hartnäckigen StreiterInnen, die engagierten LandlebenskünstlerInnen und Raumpioniere nicht so schnell auf und versuchen – trotz alledem –, gut Kulturarbeit auf dem Land zu gewährleisten. Doch sie alle wissen auch, dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, wie lange die Kraft noch reicht, diese Arbeit unter den gegebenen Rahmenbedingungen verlässlich und langfristig weiterzuführen.
Literatur:
Bertelsmann-Stiftung (2014): „Demographietypen“, www.wegweiser-kommune.de/demographietypen (Zugriff: 22. November 2015, 08:00 Uhr).
Götzky, Doreen/Renz, Thomas (2014): „Amateurtheater in Niedersachsen. Eine Studie zu Rahmenbedingungen und Arbeitsweisen von Amateurtheatern“, Hildesheim.
Online-Publikation: www.uni-hildesheim.de/media/presse/ Breitenkultur_Studie_Amateurtheater _Uni_Hildesheim.pdf, (Zugriff: 22. November 2015; 08:08 Uhr).
Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.) (2015): „Förderpotenziale für die kulturelle Infrastruktur sowie für kulturelle Aktivitäten in ländlichen Räumen“, Bonn.
Stiftung Niedersachsen (Hrsg.) (2015): Handbuch Soziokultur – mit Projekten aus Niedersachsen. Hannover.
Kegler, Beate (2015): „sozioK bewegt Niedersachsen“, in: Stiftung Niedersachsen (Hrsg.) (2015): Handbuch Soziokultur – mit Projekten aus Niedersachsen. Hannover, Heft 3, S. 7–32.
Schneider, Wolfgang (Hrsg.) (2014): „Weißbuch Breitenkultur. Kulturpolitische Kartografie eines gesellschaftlichen Phänomens am Beispiel des Landes Niedersachsen“, Hildesheim.
Beate Kegler forscht und lehrt als freiberufliche Kulturwissenschaftlerin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und anderswo und wird nicht müde, ihr Herzensthema der Soziokultur in ländlichen Räumen Praxis und Theorie immer wieder neu zu denken und zu erproben. Sie lebt in Neermoor.