Robert Menasse über Europa am Scheideweg
„Die Nationalisten haben die Welt von gestern zerstört. Jetzt zerstören sie auch noch unsere Zukunft!“ Die EU ist das vorläufige Ergebnis einer konkreten Utopie, meint Robert Menasse, doch sie ist unvollendet. Reaktionäre Kräfte möchten die EU zurückschrauben oder gar abschaffen, dabei ist die Rückkehr in ein nationales Europa nicht mehr denkbar. Aber wie einigen wir uns auf einen gemeinsamen europäischen Weg? Die kommenden Europawahlen am 9. Juni werden wohl zu einem Spiegelbild nationaler Ressentiments und doch richtungsweisend. Menasse kämpft unermüdlich für die seiner Meinung nach einzige vernünftige Lösung einer Europäischen Gemeinschaft. Ein Gespräch.
Patrick Kwasi
Wir haben uns schon zur letzten Wahl getroffen, da warst du bereits besorgt - jetzt sieht die Lage noch schlimmer aus. Du bemühst dich immer noch unermüdlich. Keine Spur von Pessimismus oder Resignation?
Robert Menasse
Ich bin pessimistisch, aber das würde ich nie zugeben. Das Grundproblem der EU ist ein institutioneller Widerspruch für den kein Kompromiss gefunden wird. Es ist der Widerspruch einer nachnationalen Entwicklung, die ja schon sehr weit vorgeschritten ist, mit dem Schengen-Raum, einer gemeinsamen Währung, der Befreiung der Universitäten und Entwicklung zum Erasmus-Raum, etc. und einer Renationalisierung der Mitgliedsstaaten bis hin zum Versuch, Souveränitätsrechte, die bereits an die EU abgegeben wurden, in die Nationen zurückzuholen.
Zwischen einer nachnationalen Entwicklung und einer Renationalisierung kann kein Kompromiss gefunden werden. Der Widerspruch muss ins Bewusstsein geholt und gelöst werden, denn er blockiert alle europapolitischen Notwendigkeiten und produziert immer größere Krisen und Probleme. Das ist die Situation, in der wir uns befinden.
Patrick Kwasi
In deinem Buch möchtest du auch dazu einladen, die EU zu kritisieren - worauf zielt das ab?
Robert Menasse
Es gibt eigentlich nur zwei Positionen: Auf der einen Seite Menschen, die die EU gnadenlos ablehnen und keinen Vorteil darin sehen. Und auf der anderen Seite Menschen, die die EU gut und wichtig finden, aber sie schönreden. Ich hingegen verteidige die europäische Idee, aber man muss ihren Status Quo kritisieren. Es ist gefährlich die Probleme auszublenden.
Aufgrund der inneren Widersprüche der EU funktioniert vieles offensichtlich nicht, das erzeugt Skepsis. Diese Widersprüche können wir nicht weg reden. Ich verstehe nicht, dass jene, die in der Verantwortung stehen, nicht erklären, dass es Gründe gibt, wieso viel nicht funktioniert. Wir müssen beginnen, diese Dinge zu thematisieren und zu lösen.
Patrick Kwasi
Ich muss zugeben, dass ich angesichts von Gruppierungen, die die EU zerstören wollen, auch den Reflex habe, sie zu verteidigen und die Kritik nicht mehr formulieren kann, die ich eigentlich formulieren wollte.
Robert Menasse
Das stimmt, allerdings muss man letztlich erklären, woher die Probleme kommen. Der Nationalismus lehnt die EU ab. Man glaubt aber auf der Gegenseite, man könne die EU retten, indem man die Ablehnung imitiert. Viele sozialdemokratische, aber auch christdemokratische Parteien in Europa plakatieren in der Wahl die Verteidigung nationaler Interessen in Brüssel. Darum geht es bei der Wahl aber gar nicht, es geht um eine supranationale Volksvertretung, die Gemeinschaftsrecht entwickeln soll. Das Parlament ist keine Versammlung nationaler Delegierter, die nur im Parlament sind, um nationale Interessen zu wahren.
Die Wahlwerbung ist eine Irreführung. Wenn das alle tun, ist es kein Wunder, dass die Nationalisten glaubwürdiger wirken.
Patrick Kwasi
Sind die Probleme im Vergleich zur letzten Wahl dieselben geblieben?
Robert Menasse
Die Probleme haben sich eindeutig verschärft. Wenn man Probleme nicht löst, werden sie größer. Die Klimapolitik ist hier das dramatischste Beispiel. Es ist aber auch in der Wirtschaftspolitik so: Wir haben einen gemeinsamen Markt, aber die Mitgliedsstaaten stehen in Konkurrenz zueinander. Das schafft Probleme im Wirtschaftsraum, wenn sich die Mitglieder gegenseitig standorttechnisch die Konzerne mit Steuerdumping abwerben.
Mit dem Aggressionskrieg Putins gegen die Ukraine wächst auch das Problem in Hinblick auf die notwendige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auch ein Friedensprojekt muss wehrhaft sein, man muss den Frieden auch verteidigen können. Doch noch immer wollen es viele nationale Mitglieder nicht wahrhaben. Auch in der Migrationspolitik folgt es derselben Logik: Ein Problem, das man nicht löst, das wächst.
Patrick Kwasi
Die FPÖ, die ja bekanntlich mit Russland verbandelt war oder ist, stellt die EU als kriegstreibend dar - wenn man sich die Umfragen ansieht, durchaus mit Erfolg.
Robert Menasse
Das hängt damit zusammen, dass niemand auch nur den Versuch macht, den faktischen Unsinn der FPÖ aufzuklären. Wenn Vilimsky sagt, die EU gehöre zu ihrer eigentlichen Bestimmung einer Zoll-Union zurückgestutzt, dann verstehe ich nicht, warum niemand der anderen Kandidaten sagt, dass die historische Wahrheit eine andere ist. Nach den Verwüstungen durch die nationalistischen Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat die Gründungsgeneration des europäischen Einigungsprojekts versucht, Europa durch die Überwindung des Nationalismus zu befrieden. Die haben nicht gesagt, dass sie denken, sie könnten die Kriege durch eine Zoll-Union beenden.
Beitrag als Podcast:
Das als ursprüngliche Bestimmung der EU zu bezeichnen ist einerseits eine Lüge, andererseits aber auch gefährlich, weil es bedeutet, dass es für Probleme, für die es keine nationalen Lösungen gibt, auch keine Gemeinschaftslösungen mehr geben kann. Da müsste man Vilimsky mit einer Gegenansage herausfordern. Aber was machen sie? Lopatka wirbt mit Sicherheitslösungen für Wien und Österreich. Schieder plakatiert das Schließen von Steuerschlupflöchern. Steuerpolitik ist aber gar nicht in der Kompetenz der EU. Dazu müsste Fiskalpolitik erst mal in EU-Kompetenz transferiert werden. Das wäre ja mal eine Ansage. Aber so wird etwas versprochen, was die EU überhaupt nicht kann. Da fehlen mir die Worte.
Patrick Kwasi
Es ist wohl leichter, eine Glut zu entfachen, als sie zu löschen. Die Politik möchte mit der frustrierten Stimmung arbeiten. Du meinst ja auch, wir sollten uns mit der Wut der Menschen beschäftigen. Aber wissen wir überhaupt, wo die herkommt oder wo sie hinmöchte?
Robert Menasse
Man muss mal anerkennen, dass immer mehr Menschen wütend werden. Das Objekt der Wut ist der Status Quo. Dafür gibt es aber auch objektive Gründe und dort muss man ansetzen. Man muss die institutionellen Widersprüche und Blockaden thematisieren. Immer nur auf Basis eines Systems zu versprechen, es besser zu machen, wird die Wut nur wachsen lassen, weil eine Besserung ohne Reform des Systems nicht möglich ist. Wir scheitern am System.
Die Gefahr der Rechten heute ist jene, dass sie versprechen, dass die vollständige nationale Souveränität die Lösung der Probleme ist. Sie werden die Probleme so erst recht nicht lösen können, weil es sich um transnationale Probleme handelt. Nicht einmal große europäische Länder wie Deutschland oder Frankreich könnten das allein. Auch die Versprechen der Rechten werden daran scheitern, doch dann könnte gesagt werden, man brauche einen noch konsequenteren Nationalismus. Das ist der Weg in den Faschismus. Deshalb sind die Parteien der Mitte dazu aufgefordert, nicht unglaubwürdige rechte Lösungsversprechen zu kopieren, sondern reale Probleme anzusprechen.
Patrick Kwasi
Aber wer hat dafür überhaupt produktive Visionen? Die Linke kritisiert die EU der Konzerne, die Rechte die Gefahr für die Nation.
Robert Menasse
Und es liegen beide Seiten falsch. Die multinationalen Konzerne haben kein Interesse an einer funktionierenden EU. Die geben Millionen und Milliarden für Lobbying aus, um zu verhindern, dass die EU funktioniert. Solange die EU es nicht schafft, Fiskalrecht zu harmonisieren oder gemeinsame Lohnpolitik umzusetzen, solange können multinationale Konzerne die EU-Länder gegeneinander ausspielen. Sie sind nicht interessiert an einer EU, die sich gut entwickelt und funktioniert.
Die Sorge der Rechten bezüglich der Aushöhlung der nationalen Souveränität ist nichts anderes, als eine Fiktion, die, um zu überleben, nur noch Kulturkämpfe führen kann. Ich kann als nationaler Politiker umsetzen, dass Schulbücher umgeschrieben werden oder das Recht der Frauen auf Abtreibung in Frage gestellt wird oder Hass auf Ausländer geschürt wird und den Zugang zu Staatsbürgerschaften erschweren. Es löst aber kein einziges wirkliches politisches Problem. Genau das führt Orban vor: Die ungarische Wirtschaft ist im Sinkflug, aber der Kulturkampf erfasst alle gesellschaftlichen Bereiche und schränkt die Freiheit der Menschen ein. gemein
Patrick Kwasi
Du meinst wir beschäftigen uns zu wenig mit der Frage der europäischen Transformation.
Robert Menasse
Das Problem beginnt bei der Tatsache, dass fast keinem europäischen Bürger klar ist, wie unterentwickelt die europäische Demokratie ist. Wir haben 27 Mitgliedsstaaten mit 27 komplett unterschiedlichen Systemen. Was ist die gemeinsame Schnittmenge von 27 verschiedenen Modellen? Wie glaubwürdig ist es, dass mit der Wahlarithmetik Deutschlands Orban in Ungarn gar nicht Ministerpräsident wäre? Wie steht es damit, dass wir mit dem ungarischen System in Österreich eine ganz andere Regierung hätten? Sollten wir das nicht in eine gemeinsame Demokratie aufheben?
Das beginnt schon damit, dass wir ein europäisches Parlament wählen, aber dies nur auf Basis von nationalen Listen tun können. Das führt dazu, dass im Wahlkampf unrealistische Versprechungen gemacht werden, weil die kandidierenden Parteien genau wissen, dass sie nur national gewählt werden. Die Europäische Kommission hat den Auftrag, die Gemeinschaft zu entwickeln. Hier haben wir eingeschrieben, dass nationale Vertreter der Mitgliedsstaaten nominiert werden, bevor man überhaupt weiß, welches Ressort sie bekommen. Da geht es nicht um Kompetenz in einem politischen Feld, sondern um die nationale Delegierung. Das zeigt, wie winzig die Kinderschuhe der europäischen Demokratie sind.
Wenn man nichts anderes über die EU weiß, kann man leicht denken, dass da Leute in Brüssel sitzen, die über uns bestimmen. Wenn man es den Menschen erklärt, können sie aber politisch partizipieren. Dann ändert sich die Stimmungslage gewaltig.
Robert Menasse ist Schriftsteller und politischer Essayist. In seinem neuen Buch "Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde" erklärt und verteidigt er die europäische Idee, lädt aber auch dazu ein, die systemischen Widersprüche der Union zu kritisieren und zu überwinden.
Foto: ©Patrick Kwasi