Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation
Infolge ihrer kaum steuerbaren Dynamik entstehen in den Mega-Cities neue urbane Kulturen und städtische Landschaften, die das städtebauliche, kulturelle und organisatorische Modell der europäischen Stadt auf eine eher unbedeutende regionale Variante zurückstufen.
Europäische Stadt?
"Über einen Zeitraum [...] von etwa 1000 bis 1750 n. Chr. hat sich jener städtische Typus entwickelt, der in funktionaler, sozialer und ästhetischer Hinsicht bis heute die Vorstellungen von der 'europäischen Stadt' nachhaltig prägt. Daß es sich bei diesen Vorstellungen bestenfalls um eine Mischung aus Projektionen und Realitäten handelt, hat auf die Wirksamkeit dieser Vorstellungen keinen Einfluß." Dieter Hassenpflug‚ Die Europäische Stadt. Mythos und Wirklichkeit', S.29f
Bis heute gilt die europäische Stadt als beispielhaftes Exportmodell. Als Hort bürgerlicher Emanzipation, kultureller Vielfalt und ökonomischer Innovation spiegelt sie die für überlegen gehaltene europäische Zivilisationsgeschichte. Doch erst das industrielle Zeitalter und die Kolonialisierung verbreiteten das europäische Stadtmodell weltweit. Diese geschichtlich kurze Vorherrschaft der Städte Europas und Nordamerikas als Leitmodelle für globale Urbanisierungsprozesse geht nun zu Ende. Für das Jahr 2015 prognostiziert die UNO 33 Megastädte mit je mehr als acht Millionen Einwohnern. 27 von ihnen werden in so genannten Entwicklungsländern liegen - von den zehn größten Städten sieben in Asien, und lediglich Tokyo wird eine reiche Metropole sein. Infolge ihrer kaum steuerbaren Dynamik - Bombays Bevölkerung hat sich in nur 30 Jahren vervierfacht - entstehen in den Mega-Cities neue urbane Kulturen und städtische Landschaften, die das städtebauliche, kulturelle und organisatorische Modell der europäischen Stadt auf eine eher unbedeutende regionale Variante zurückstufen.
Zivilgesellschaft, öffentlicher Raum und Markt sind seit der Antike Maßgaben der Europäischen Stadt. Man könne die zivilisierende Rolle des Handels gar nicht hoch genug einschätzen, der die Primitivität der Subsistenzwirtschaft hinter sich lasse, bemerkt Dieter Hassenflug in der Einleitung zum oben genannten Buch. Im selben Band begutachtet Wolfgang Christ die Abwesenheit des Handels im Stadtdiskurs: "Es ist verblüffend, wie konsequent die Welt des Handels und der konsumorientierten Freizeit aus den Vorstellungswelten der 'weißen Moderne' ausgeblendet werden." (S.106) Doch auch Christs Modelle bleiben im Gegenüber von mittelalterlichem Markttreiben und aktueller 'Event City' gefangen. Zwischen Urban Entertainment Mall und Siena, zwischen Urban Sprawl und Blockrandbebauung scheinen sich die Diskurs-Alternativen zu erschöpfen. Doch was wäre, wenn man die vielbeschworene 'Amerikanisierung' als Lebenswirklichkeit von US- und Lateinamerika ernst nähme?
Jenseits der Civitas
Während dem europäischen Stadtbürgertum ein urbanes Leben abseits hochgradig regulierter Normen als tendenziell anarchisch gilt, zeigt sich auf globaler Ebene eine der 'Civitas' widersprechende Normalität. Sie hat im wesentlichen zwei Gesichter: Das eine ist das irreguläre, staatlich nicht geordnete städtische Leben, verkörpert etwa durch informelle Selbstbausiedlungen oder den Straßenraum nutzende Märkte; das andere ist häufig eine Überlagerung aus staatlicher Repression, privater Kontrolle und mafiöser Gewalt. Hier zeigen sich bei näherer Betrachtung Überschneidungen beider Gesichter: fehlende Rechtmäßigkeit, Widerspruch zu hiesigen Ordnungs- und Demokratievorstellungen, eine privatisierte Organisation sozialen Lebens, eine illegale Verfügung über Grund und Boden, verweigerte Steuern, Korruption und mafiöse Strukturen.
Mit der 'Globalisierung' scheinen Strukturen des Südens nun auch in Städte des Nordens einzukehren. So ist die 'Europäische Stadt', wie sie etwa die Berliner Planung weiterhin propagiert, de facto durchzogen von einer querläufigen globalen 'Normalität'. Multinationale Zuwanderung, Sweatshops, Armutsökonomien, Korruption und privatwirtschaftlich überwachte Areale, die Budenstädte der Wanderbauarbeiter oder Lager der Asylsuchenden lassen die Norm der bürgerlich geordneten Stadt zunehmend als Phantasma erscheinen. Was augenzwinkernd 'Byzantismus', 'Klüngel' und, weniger wohlwollend, 'Balkanisierung' genannt wird, charakterisiert auch hierzulande Regelverletzungen, die nach den Maßstäben der internationalen Korrup-tionslistenverwaltung Transparency International einen Platz auf den unteren Rängen sichern: "Auch hierzulande ist [die] Tabelle den Verfechtern der Bananenrepubliktheorie längst zum Dogma geworden", kommentiert die FAZ vom 28. August 2002 den 'Sittenverfall'.
Auch informelle Strukturen prägen zunehmend die 'entwickelten' Länder Europas. So kennzeichnen der 'Polenmarkt' in Berlin oder die chinesischen Märkte in Budapest, 'national befreite Zonen' in Deutsch-land, sich gegen die Kommunen abschottende Gated Communities im Einzugsbereich der französischen Banlieues, schmutzige Bürgerkriege in Nordirland oder die neokoloniale Herrschaft über Ex-Jugoslawien durch Besatzungstruppen (KFOR, UCK-Paramilitär), Hilfsorganisationen (NGOs) und transnationale Protektorate (Hohe Vertreter der Staatengemeinschaft in Bosnien-Herzegowina) eine so ganz andere europäische Stadt, als sich dies die Wieder(er)finder der "Königstadt" herbeischreiben.
Nicht also die 'amerikanische Stadt' oder 'Tokyo' sind Gegenmodelle zur 'Europäischen Stadt', sondern eher schon die Einbettung einer Metropole in das Beziehungsgeflecht des 'Globalen Südens' - das, was man früher 'Dritte Welt' genannt hat und nun zugleich auch definitorisch die Migrationsanker in den Industrieländern umfasst. Der eurozentrische Blick verkennt, dass das Wachstum der Städte in Nord wie Süd auf dem Wissen der Zugewanderten basiert, dort eher Chancen auf Arbeit, Bildung und sozialen Aufstieg zu finden als anderswo. Die Großstädte des 'Globalen Nordens' sind nicht nur Startbahnen der Business-Klasse, sondern immer auch Landebahnen von Menschen, die dort Asyl und wirtschaftliches Auskommen suchen.
Vorbild globaler Süden
Die Megastädte des 'Globalen Südens' galten bislang als abschreckende Stadtwucherungen. Eine katastrophistische Bildsprache zeichnete Riesenstädte, die als unkontrollierbare Orte von "Massenarmut und Rassenkrawallen, Verkehrschaos und Abfallbergen" charakterisiert wurden. Die Landflucht in die Großstädte sollte durch Zuzugssperren bekämpft, die 'Bevölkerungsexplosion' durch Abtreibung und Geburtenkontrolle gedämpft und die Zersiedelung der Städte durch 'slum clearance' und 'bulldozing' zurückgeschlagen werden.
Solche Vorstellungen und martialischen Praktiken unterliegen zur Zeit einer Revision. Die vormals ungeliebten Zustände des 'Globalen Südens' scheinen nun gar zum Maßstab künftiger Stadtentwicklung zu werden. Auffällig verschieben sich dabei die Bilder, die in 'Industrieländern' von den Megastädten des 'Globalen Südens' existieren. Als Kipppunkt wäre die von der deutschen Bundesregierung im Jahre 2000 mitveranstaltete Berliner Weltkonferenz zur Zukunft der Städte URBAN 21 zu nennen.
Wurden bislang illegale Landbesetzungen massiv bekämpft, so finden sich selbst organisierende Einheiten im Umfeld einer neoliberalen Stadt- und Wirtschaftspolitik nun wachsende Anerkennung. Zugleich gerät die wohlfahrtsstaatliche 'Daseinsvorsorge' nördlicher Metropolen in die Kritik einer rigiden Sparpolitik. Der Blick des Nordens durchforstet nun individuelle Überlebensstrategien, kollektive Selbstorganisation und informelle Ökonomien der Armen in südlichen Metropolen nach ihren 'Potenzialen', um soziale Krisen zu managen, wie sie mit der globalen Wettbewerbspolitik und der reduzierten staatlichen Wohlfahrt auch in den Städten des Nordens aufbrechen.
Learning from*
Eine Ausstellung, die städtische Realität jenseits der europäisch verstandenen Civitas aufzeigen will, darf geprägte Bilder chaotischer Strukturen nicht bedienen, muss die politisch-instrumentelle Perspektive eines neoliberalen Lernens von selbst organisierten Überlebensstrategien jenseits des Wohlfahrtsstaates vermeiden ebenso wie den romantischen Blick auf städtischen Alltag inmitten von Krisen und Konflikten. Learning from* wird keine Städteporträts liefern, sondern thematische Schwerpunkte aus dem städtischen Alltag zwischen Märkten und Verkehr, Konflikten und Architekturen bearbeiten. Das besondere Augenmerk liegt auf Organisationsformen innerhalb scheinbar chaotischer Strukturen und auf den irregulären Momenten innerhalb scheinbarer Ordnungen, wie sie in folgenden Beispielen aufscheinen:
Der städtische Verkehr in Mumbai, vor allem das öffentliche Transportsystem, gilt auch indischen ExpertInnen als besonders chaotisch, langsam und unzuverlässig. Dennoch funktioniert ein komplexes System der Essensdistribution durch über 10.000 "Dabbawallas", die mit Fahrrad, Bus und Bahn hausgemachte Lunchpakete aus den Wohnvororten zu den jeweiligen Familienmitgliedern an deren innerstädtische Arbeitsplätze bringen, jeden Tag pünktlich. Wie sehr die behauptete Spaltung in eine reguläre bürgerliche und eine irreguläre Armutsstadt der Realität widerspricht, wird an Rio de Janeiro deutlich, wo geographische Lage, Ökonomie und urbane Kultur illegaler 'Favelas' mit reicheren Wohnorten, Bürokomplexen und weltbekannten Touristenzielen untrennbar verflochten sind. Bleibt man in Europa, ist auch dessen größter informeller Markt an der Arizona-Road in Bosnien-Herzegovina engstens mit Planungen der SFOR-Truppen verbunden, die ihm auch seinen Namen gaben. Bald soll er durch ein Einkaufszentrum im Italo-Stil ersetzt werden. Auch Gewaltkonflikte und staatliche Repression treten nicht nur im durchgängig militarisierten, von bürgerkriegsartigen Konflikten durchzogenen Lagos oder im blutigen Krieg zwischen Drogenbanden und korrupten Polizeieinheiten in Rio de Janeiro auf.
Lange vor dem Kampf gegen den Terror hat der 'schmutzige Krieg' in Nordirland den Schutz von Bürgerrechten und der Privatsphäre außer Kraft gesetzt. In Belfast fahren die Linienbusstrecken durch nun klar gespaltene Wohnbezirke schon lange nicht mehr, während gleichzeitig gemischte Areale wie die City, das Universitätsviertel oder die Villengegend hochgradig aufgerüstet und fortifiziert sind.
Die Ausstellung "Learning from* Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation": 13.9. bis 17.10. in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, Oranienstr. 25, 10999 Berlin und vom 5.11. bis 6.12. in der Kunsthalle Exnergasse, WUK, Währinger Str. 59, 1090 Wien. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog.