Der alte Mann und das Meer der Lügen. Zur Formierung des postliberalen Rassismus

Mr. Sarrazin steht unmissverständlich für ein dubioses Modernisierungsprojekt: für die offensive Mainstreamisierung eines neuen Rassismus in Europa, des postliberalen Rassismus. Es ist ein Rassismus der radikalisierten Suburbia-Mittelschicht, die ihre Hegemonie jenseits des Parteienspektrums sucht und organisiert.

Mr. Sarrazin ist ein alter Mann. Sein paroxystisch anmutender Hang zur Selbstinszenierung als enfant terrible der Integrationsdebatte passt zu seinem Alter. Auch der offene Sozialdarwinismus seiner Argumentation passt dazu. Doch Mr. Sarrazin steht unmissverständlich für ein dubioses Modernisierungsprojekt: für die offensive Mainstreamisierung eines neuen Rassismus in Europa, des postliberalen Rassismus. Es ist ein Rassismus der radikalisierten Suburbia-Mittelschicht, die ihre Hegemonie jenseits des Parteienspektrums sucht und organisiert. Ihr Markenzeichen sind Latte macchiato und postpolitischer Tabubruch mittels antimuslimischer Rhetorik. Das Manifest dieses Projektes ist sein Buch „Deutschland schafft sich ab“. Obwohl es nützlich ist, seine Thesen wissenschaftlich zu widerlegen (1) und auf den unbelehrbaren Stumpfsinn ihrer sozialdarwinistischen Antiquiertheit hinzuweisen(2), scheint es mir wichtiger, sein Publikum, den Zeitpunkt seines Erscheinens und seine zentralen Signifikanten zu kontextualisieren. Es ist das brave Bürgertum in seinem neuen postpolitischen Selbstbewusstsein, das – wie z. B. in einer Münchener Sarrazinveranstaltung vor einigen Monaten – den Soziologen Armin Nassehi aus dem Saal buhte, während gleichzeitig zahlreiche EU-Regierungen derzeit die muslimische Burka zum Gegenstand gesetzlicher Restriktionen machen.
Mr. Sarrazin ist kein Diskursbegründer. Weder seine Positionen zum Verhältnis von Kopftuch und Frauenunterdrückung noch seine Polemik gegen muslimische „Integrationsverweigerer“ sind besonders neu. Die Produktivität des Diskurses von Mr. Sarrazin besteht in der Ausweitung des Sagbarkeitsfeldes der Signifikanten der Differenz – vom muslimischen „Integrationsverweigerer“ zum „Burka-Gefängnis“ bis zur „Deutschenfeindlichkeit“. Diese Zeichen der Differenz werden an unmittelbar körperlichen Merkmalen oder Kleidungsstücken festgemacht – das ist übrigens nicht neu am Rassismus –, die aber nicht mehr als eine kulturalistische Abweichung von der deutschen leitkulturellen Norm sichtbar gemacht werden, sondern als der sichtbare Beweis für eine Schläferbereitschaft innerhalb der angenommenen deutschen Staatsangehörigkeit. Das ist es, was ich als postliberalen Rassismus bezeichne(3).

Postnationale Subjekte und neue Konturen von Rassismen

In zahlreichen geopolitischen Kontexten sind Konturen von Rassismen zu beobachten, die sich gegen die Rechte von MigrantInnen und deren postmigrantische Nachfahren richten. Ich spreche in diesem Zusammenhang von „postnationalen Subjekten“ und will mit dieser Figur auf eine dynamische Ambivalenz hinweisen, die in die Politiken der Staatsbürgerschaft von Einwanderungsgesellschaften eingeschrieben ist. Ein postnationales Subjekt bezieht einerseits seine Rechte auf die Verrechtlichungsfolgen einer migrantischen oder postkolonialen Erfahrung. Andererseits verkörpert es die Entkopplung der Zuordnung eines Körpers zu einem singulären Rechtssubjekt einer Nation. Postnationale Subjektivität entsteht vielmehr in der verkörperten und verrechtlichten Vervielfältigung dieser Zuordnung. Rassismus präsentiert sich in den postkolonialen und postmigrantischen Einwanderungsgesellschaften Europas als erratischer Archipel verschiedener, einander zum Teil überlagernder Formationen von offen rassistischer Gewalt bis hin zu subtilen Varianten eines institutionalisierten Rassismus – wie bspw. dem laizistisch legitimierten Kopftuchverbot. Es handelt sich hierbei um Diskurse, Politiken und Praktiken von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen, die systematisch Ausgrenzung und Diskriminierung produzieren, ohne sich explizit und vorsätzlich rassistischer Begründungs- und Deutungsmuster zu bedienen.
Die Hegemonie von Dominanzgesellschaften wird sichergestellt, obwohl die Zuschreibungen und Verfahrensweisen als angemessen oder wertneutral erscheinen. Bekanntestes Beispiel dafür ist die Kriminalisierung der Kopftuchträgerinnen. Burka-Trägerinnen werden überall in Europa als die ambulante Verkörperung eines Verdachts wahrgenommen. Die Verweigerung von gleichen Rechten der Berufsausübung – nicht nur im Staatsdienst auch in der Privatwirtschaft – für migrantische Frauen, die den Hijab, also das Kopftuch, tragen, ist paradigmatisch. Ich möchte hier auf die hervorragende Arbeit der Juristin Cengiz Barskanmaz (2009) hinweisen, die zur Rechtskonstruktion Kopftuch und Rassismus arbeitet. Wir kennen das Beispiel von Frau Ludin, der Lehrerin afghanischer Herkunft in Baden-Württemberg. Sie wurde wegen ihres Beharrens auf den Hijab nicht verbeamtet. Was jedoch für eine deutsche Muslimin nicht galt: Die Konvertitin bzw. die „gebürtige Deutsche“, so der Wortlaut des Lüneburger OVGs vom 16.10.2000 (NJW 2001, 767), erhielt die Erlaubnis, den Hijab auf Probe beim Unterrichten zu tragen. In ihrem Fall sei, so das Gericht, die fundamentalistische Bedeutung des Kopftuches ohnehin auszuschließen, da eine fundamentalistische Grundeinstellung „bei der Klägerin als Deutsche mit evangelisch-lutherischer Erziehung fern liegen dürfte“ (ebd.: 770).

Die Transformation des Rassismus der Gegenwart

Der anti-migrantische Rassismus wurde mit Etienne Balibar überwiegend als „Neo-Rassismus“ oder „differentieller Rassismus“ bezeichnet. Postliberaler Rassismus tritt das Erbe des „differentiellen Rassismus“ an, der ebenso wie der gegen ihn artikulierte Antirassismus in eine Krise geraten ist. Die neuerlich endemisch beschworenen „Grenzen der Toleranz“ bzw. das „Scheitern des Multikulturalismus“ tragen das unmissverständliche Signum der Transformation des Rassismus der Gegenwart. War das corpus delicti des „Neo-Rassismus“ die kulturalistische Trope der Unvereinbarkeit von Kulturen, so ist es für den postliberalen Rassismus die proaktive „Vervielfältigung der Grenzen“ innerhalb der liberalen Politiken der Bürgerschaft. In Anlehnung an Etienne Balibar bezeichne ich diese Formationen als Belege für eine postliberale Variante des „modernen institutionellen Rassismus“. Dieser vereinigt zwei einander entgegengesetzte Denkweisen, „wo auf der einen Seite die Nation oder der politische Nationalismus steht, der sich auf die Vorstellung einer ‚essenziellen Gemeinschaft‘ und von deren einzigartigem Schicksal gründe, und auf der anderen Seite der auf Konkurrenz beruhende Markt, der – im Unterschied zur Nation – weder einen inneren noch einen äußeren ,Feind‘ zu haben und niemand auszuschließen scheint, der aber eine allgemeine individuelle Selektion institutionalisiert, deren untere Grenze die soziale Eliminierung der ‚Unfähigen‘ und ‚Unnützen‘ darstellt“ (Balibar 2008: 23).

Ein prominentes Beispiel dafür ist Murat Kurnaz: Kurnaz, ein gebürtiger Bremer mit türkischem Pass, ist ein bekanntes Gesicht in Deutschland, sicherlich auch wegen seines voluminösen Vollbartes. Dieser könnte in rassisierender Manier als Chiffre für die Zugehörigkeit zu einer islamistischen Gruppe gedeutet werden. Das Rätsel seines Bartes nach seiner unerwarteten Entlassung aus dem Guantánamo-Camp interessierte die deutsche Öffentlichkeit offensichtlich mehr als die dubiosen Modalitäten seiner Entführung von US-Streitkräften und die noch dubioseren Manöver gegen seine Entlassung seitens des deutschen Außenministeriums. Deutsche Behörden wussten spätestens Anfang Januar 2002 von der Inhaftierung Kurnaz’ durch die USA. Obwohl die deutschen Guantánamo-Vernehmer von Kurnaz’ Unschuld überzeugt waren und festgestellt hatten, dass er keinerlei Kontakte ins terroristische Milieu hatte, verweigerten ihm das BKA und das Bundeskanzleramt die von den USA im Herbst 2002 in Aussicht gestellte Freilassung nach Deutschland. Mit der vagen Begründung des Sicherheitsrisikos und der völkerrechtlichen Nichtzuständigkeit Deutschlands wegen Murat Kurnaz’ türkischem Pass offenbart sich die Produktivität eines antimuslimischen Rassismus, der darin besteht, die aus der Einwanderungsgeschichte resultierenden Niederlassungsrechte postnationaler Subjekte einzuschränken, indem sie mit der Praxis des generellen Terrorismusverdachts flankiert werden. Murat Kurnaz ist inzwischen rehabilitiert, seinen verdächtigen Bart hat er noch eine Weile behalten.

Politiken einer reversiblen Staatsbürgerschaft

Postliberale rassistische Strategien operieren wesentlich fluider als jene des traditionellen Rassismus, der sich auf solch naturalisierende Kategorien wie den biologistischen „Rasse“-Begriff berief und über die offene und strukturelle Gewalt der Segregation und der Exklusion operierte. Die Rassismen der Gegenwart fluktuieren vielmehr auf eine spezifische Weise zwischen biologistischen und kulturalistischen Markierungen von Überlegenheit und Inferiorität. Sie operieren mittels der Rekombination egalitärer Ideologeme der feministischen Disziplinierung des migrantischen Subjekts, eines homonormativen Nationalismus, neolaizistischer Anti-Religiosität und durch urbane Paniken. Die flexible Rekombination und/oder die konjunkturelle Überschneidung dieser Disziplinierungstechniken postnationaler Subjekte und deren minorisierter Körper sind ein konstituierender Bestandteil der beweglichen Struktur der Rassismen der Gegenwart. Diese rassistischen Praxen lassen sich nicht nur über binäre Differenzierung und Prozesse der Exklusion bestimmen, sondern primär über neuartige Prozesse einer limitierten Inklusion bzw. einer egalitären Exklusion, d. h. über Politiken einer reversiblen Staatsbürgerschaft postnationaler Subjekte. Die Geschichte und die Konjunkturen von Rassismen lassen sich jedoch nicht im Sinne von Machttechnologien – wie der Disziplinierung – beschreiben, sondern sind schon immer eine Antwort auf die Kämpfe der rassialisierten Subjekte (Bojadžijev 2007). Die zahlreichen Reaktionen der (Post-)MigrantInnen in Deutschland auf die Lügen des alten Mannes zeugen davon.

Vassilis Tsianos lehrt und forscht an der Soziologischen Fakultät Hamburg.

Literatur
Balibar, Ètienne (2008): „Die Rückkehr des Konzeptes der ,Rasse‘“. In: Springerin 3/2008, S. 18-24.
Barskanmaz, Cengiz (2009): „Das Kopftuch als das Andere. Eine notwendige postkoloniale Kritik des deutschen Rechtsdiskurses“. In: Berghahn, Sabine/Rostock, Petra (Hg.): Der Stoff aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bielefeld. S. 361-394.
Bojadžijev, Manuela (2007): Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Münster.

Fußnoten
(1) Siehe dazu die lesenswerten Publikationen des Forschungsprojektes „Hybride-europäisch-muslimische Identitätsmodelle (HEYMAT)“, vor allem den Beitrag von Naika Foroutan „Zur aktuellen „Sarrazin Debatte“ in Deutschland, September 2010, Heymat
(2) Siehe dazu den Diskussionsbeitrag von Norbert Finzsch in der Taz von 15.9.2010. Darin erinnert uns Finzsch an die Karriere eines überraschend ähnlich argumentierenden wissenschaftlich anmutenden Buches von Richard Herrnstein und Charles Murray namens „The Bell Curve“ aus dem Jahr 1994.
(3) Dieser Text rekurriert auf einen gemeinsamen Beitrag von mir, Ephtimia Panagiotidies und Marianne Pieper mit dem Titel „Konjunkturen der egalitären Exklusion: Postliberaler Rassismus und verkörperte Erfahrung in der Prekarität“, der in dem von Marianne Pieper, Thomas Atzert, Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos herausgegebenen Band „Biopolitik in der Debatte“ im VS-Verlag Anfang des neuen Jahres erscheinen wird.

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