Die Unorganisierbaren organisieren. Neue Formen von Arbeit, Identitäten und Interessen und ihre kollektive Organisierung

Eine erfolgreiche Organisierung erfordern neue Formen der kollektiven Vertretung von ArbeitnehmerInneninteressen durch die Gewerkschaften, für die zumindest bis heute in Österreich keine politisch ähnlich einflussreiche Alternative existiert.

Die Gewerkschaften gründen ihre historische Bedeutung für Erwerbstätige und ihre Organisierungserfolge in den Nachkriegsjahren des sog. Fordismus vorwiegend auf zwei zentrale interne Voraussetzungen: Erstens die erfolgreiche Konstruktion einer einheitlichen Klassenidentität ihrer Kernmitgliedschaft bei gleichzeitiger Exklusion von „Randgruppen“ (Frauen, Arbeitslose, MigrantInnen, etc.); und zweitens die traditionelle Kooperationsbereitschaft der im österreichischen (und deutschen) „dualen System der Interessenvertretung“ formal unabhängigen Institution des Betriebsrats, dessen Mitglieder im betrieblichen Kontext als personifizierte Gewerkschaf- terInnen für Beitritte, soziale Bindungswirkungen zur Gewerkschaft und daher die Mobilisierbarkeit ihrer Belegschaft in etwaigen Arbeitskonflikten sorg(t)en. Beide Bedingungen für eine erfolgreiche Organisierung sind nun tendenziell in Auflösung begriffen und erfordern neue Formen der kollektiven Vertretung von ArbeitnehmerInneninteressen durch die Gewerkschaften, für die zumindest bis heute in Österreich keine politisch ähnlich einflussreiche Alternative existiert. Der Aufsatz nimmt zunächst die genannten Organisierungsbedingungen und deren Erosion in den Blick, um sie schließlich mit aktuellen Gewerkschaftsstrategien für neue Beschäftigtengruppen und deren mögliche Erfolge bzw. Misserfolge zu konfrontieren.

Von der Auflösung kollektiver Identitäten … und ihrer möglichen Neuformierung

Als normatives Referenzmodell für die Bildung einer einheitlichen Interessenlage und Arbeitsidentität dient den Gewerkschaften bis heute das sog. „Normalarbeitsverhältnis“ (Mückenberger 1985, Keller/Seifert 1995, Tálos 1999), also die Existenz sichernde abhängige Vollzeitbeschäftigung insbesondere der männlichen Arbeitnehmer innerhalb eines Betriebes, die mit arbeits- und sozialrechtlichen Ansprüchen verknüpft ist. Bis vor wenigen Jahrzehnten entsprach auch eine Mehrheit, niemals alle, der arbeitbezogenen Einzelinteressen dieser einheitlichen Norm, die nicht zuletzt von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen mitbestimmt wurde. Die weitgehend standardisierten Arbeits- und Produktionsbedingungen in der Industrie und, in abgeschwächter Form, auch im Dienstleistungsbereich, ermöglichten bis in die 1980er Jahre eine starke kollektive Interessenvertretung.
Seit etwas mehr als 20 Jahren werden diese Voraussetzungen gewerkschaftlichen Handelns allerdings auf mehreren Ebenen herausgefordert: Weit reichend dokumentierte Mitgliedschaftsrückgänge der Gewerkschaften werden regelmäßig mit dem sektoralen und technologischen Wandel der Arbeitsgesellschaft, der zunehmenden „Feminisierung“ und „Atypisierung“ der Beschäftigung und einem neu aufkeimenden Individualismus in Verbindung gebracht (Zoll 1998, Hassel 1999, Ebbinghaus 2002, Pernicka 2006). Mit der Verlagerung vom industriellen Produktions- zum Dienstleistungssektor, und einer mit dieser Entwicklung verbundenen Zunahme von Angestellten (im Gegensatz zu ArbeiterInnen) und weiblichen Arbeitskräften, ist der Anteil der Beschäftigung in jenen Sektoren, die als Hochburgen gewerkschaftlicher Organisation gelten, stark zurückgegangen. Die vorwiegend männliche IndustriearbeitnehmerInnenschaft wurde in vielen Bereichen durch traditionell schwächer organisierte Beschäftigtengruppen im Dienstleistungsbereich (Dolvik/Waddington 2002) und potenziell prekär Beschäftigte an den Rändern der betrieblichen Arbeitsmärkte ersetzt. Und mit der zunehmenden Internationalisierung der Produktionsbedingungen haben sich auch die faktischen Machtverhältnisse wieder zugunsten der ArbeitgeberInnenseite verschoben. Neue Managementformen der flexiblen Arbeitsorganisation und Beschäftigung haben dazu geführt, dass das „Normalarbeitsmodell“ erodiert und die Identitäten (Selbstwahrnehmungen) der abhängig Arbeitenden und ihre kollektiven Interessenlagen vielfältiger geworden sind.

Oskar Negt (1989) konstatiert in diesem Zusammenhang eine „neue Unübersichtlichkeit“, weil neue – vom Normalarbeitsverhältnis abweichende – Formen der Arbeit und ihrer Organisation entstanden, sozialstaatliche Schutzmechanismen abgebaut, und die Zonen der Verwundbarkeit ausgedehnt worden sind. Wenn nun die (potenziellen) Gewerkschaftsmitglieder aufgrund ihrer heterogenen Beschäftigungsverhältnisse bzw. Berufsbiografien (einschließlich der Zeiten von Arbeitslosigkeit) in ihren partikularen Interessen immer weiter voneinander abweichen, und sich bestehende kollektive Identitäten als ideologisches Bindemittel für eine gemeinsame Problemsicht zunehmend auflösen, dann geraten Gewerkschaften in Gefahr, auch für die schrumpfende Gruppe der Normalarbeitenden ihre innerorganisatorische Legitimität einzubüßen.

Die Rolle des Betriebsrates als Vermittler kollektiver Werte und sozialer Bindungen erodiert

In der Praxis übernehmen Betriebsräte für österreichische (ebenso wie für deutsche) Gewerkschaften traditionell die betriebliche Repräsentations-, Rekrutierungs- und Legitimierungsfunktion für Gewerkschaften (Müller-Jentsch 1997, Behrens 2005, S. 330). Da etwa 85 Prozent der österreichischen BetriebsrätInnen im ÖGB organisiert sind/waren (Traxler et al 2000, S. 138), wurden sie von den Beschäftigten auch als betriebliche Gewerkschaftsvertreter wahrgenommen. Die Zunahme „betriebsratsfreier Zonen“ und die Tatsache, dass atypisch Beschäftigte (freie DienstnehmerInnen, Neue Selbstständige, Einpersonenunternehmen) über keine betrieblichen Mitbestimmungsrechte und betriebsrätlichen Vertretungsansprüche verfügen, hat die Effektivität dieses gewerkschaftlichen Organisierungsmodells erheblich verringert.
Darüber hinaus weisen die genannten Arbeitsformen ein enormes Bedrohungspotenzial für regulär Beschäftigte auf. Da für Neue Selbstständige und freie DienstnehmerInnen keine Mindesttarife, kein Arbeitsrecht und kaum soziale Schutznormen (z.B. Arbeitslosenversicherung) existieren, besteht die Gefahr von Dumping- löhnen und der Umgehung von ArbeitnehmerInnenschutzbestimmungen durch die Substitution von regulären durch atypische Beschäftigungsverhältnisse.

Und schließlich sind Arbeitskampfmaßnahmen (z.B. Streik) aufgrund mangelnder Mobilisierungsbereitschaft der Beschäftigten nur mehr bedingt realisierbar. Obwohl in den Tätigkeitsbereichen etwa einer Vielzahl von abhängig Selbstständigen (Neue Medien, IT-Dienstleistungen, etc.) die „Auftraggeber“ wirtschaftlich verwundbar sind – wodurch die Effektivität des Streikrechts auch in der postindustriellen Gesellschaft gegeben sein dürfte –, entsteht durch die Fragmentierung und Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen ein Mangel an betrieblicher Bindung, an Koordinations- und Abstimmungsmöglichkeiten zwischen den Betroffenen und offenbar auch an Bereitschaft hinsichtlich gemeinsamer Arbeitskampfmaßnahmen.

Von der Ignoranz zum Handeln: Gewerkschaftliche Organisierungsstrategien für atypisch Beschäftigte

Vor diesem Hintergrund begegneten die meisten österreichischen Gewerkschaften atypischer Beschäftigung, und dabei insbesondere Formen der wirtschaftlich abhängigen Selbstständigkeit, sowie einer Vertretung und Organisierung der davon Betroffenen bis Anfang der 1990er Jahre mit großer Skepsis. Das primäre Ziel der Gewerkschaften bestand und besteht bis heute in der Eindämmung und Begrenzung der abhängigen Selbstständigkeit und insbesondere ihrer spezifischen, illegalen Ausprägung der Scheinselbstständigkeit, die auf die Umgehung eines regulären Arbeitsvertrages abzielt (Pernicka/Blaschke 2006).

Der strikten Ablehnung und dem teilweise erbitterten gewerkschaftlichen Kampf gegen die abhängige Selbstständigkeit folgte allerdings eine Phase der Ernüchterung und Neuorientierung. Mit einer Statutenreform des ÖGB im Jahr 1993 hat die gewerkschaftliche Auseinandersetzung mit und die Interessenvertretung von Selbstständigen eine langsam wachsende Bedeutung eingenommen, und es wurden spezifisch neue Institutionen geschaffen und Angebote für diese Gruppe entwickelt (work@flex). So richtete etwa die GPA in ihrer großen Strukturreform von 2000 neue Elemente – sog. Interessengemeinschaften – ein, welche die Interessen atypisch Beschäftigter quer über die etablierten Branchen organisieren und vertreten soll. Erste Zwischenergebnisse deuten aber lediglich auf bescheidene Erfolge hin: Die Anzahl der eingetragenen Personen beträgt jeweils nur einige hundert. Für die Organisationsbemühungen scheint ein Problem, dass das reine Beschäftigungsverhältnis offenbar keine hinreichende Grundlage für Organisierungsbestrebungen darstellt, weil sie als „Negativdefinition“ kaum zur Identitätsbildung beizutragen vermag (Pernicka et al 2006).

Nachdem traditionelle gewerkschaftliche Organisierungsstrategien immer öfter ins Leere gehen (Stichwort betriebsratsfreie Zonen) und die organisationspolitischen Innovationen mangels Verbreitung durch etwaige BetriebsrätInnen und einfache Mitglieder in der Öffentlichkeit kaum bekannt sein dürften, nehmen einige Teilgewerkschaften des ÖGB zunehmend Anleihe beim angelsächsischen Modell der Mitgliedergewinnung („organizing-model“) und versuchen durch Kampagnen und Partizipationsangebote an einfache Mitglieder kombiniert mit Dienstleistungsanreizen bisher gewerkschaftsferne Gruppen zu mobilisieren und als Mitglieder zu rekrutieren (Pernicka/Blaschke 2006). So schwärmten etwa im September 2005 MitarbeiterInnen und FunktionärInnen der GPA aus, um die überwiegend weiblichen und Teilzeit beschäftigten Angestellten der Drogeriekette Schlecker, die sich verschiedener Arbeitsrechtsverletzungen schuldig gemacht haben soll, gleichzeitig zu kontaktieren, über ihre Rechte zu informieren und der Gewerkschaft Präsenz zu verleihen. Eine ähnlich geartete Kampagne richtete sich im Sommer 2006 an abhängig selbstständige Call-Center Agents.

Die intensivierte Mitgliederorientierung ausgewählter Gewerkschaften soll allerdings über zwei wesentliche Problemfelder nicht hinwegtäuschen: Erstens beschränken sich etwa die Partizipationsangebote der GPA an einfache Mitglieder auf untere Hierarchieebenen und sind von ihren Stimmenanteilen in Entscheidungsgremien auf eine symbolische Mitwirkung reduziert. Zweitens handelt es sich bei Kampagnen-, Partizipations- und Dienstleistungsstrategien um kostenintensive Maßnahmen, die sich langfristig nur amortisieren können, wenn sich durch sie normative Bindungswirkungen zwischen (potenziellen) Mitgliedern und der Gewerkschaft entfalten und utilitaristische Kosten-Nutzenkalkulationen eines Beitritts in den Hintergrund treten. Normative Bindungen, Solidarität und die Bereitschaft, für eine Sache kollektiv zu kämpfen, können aber erst entstehen, wenn die Menschen das Gefühl und Vertrauen haben, dass sie selbst oder VertreterInnen aus ihren eigenen Reihen mitbestimmen können, wohin der Weg gehen soll.

Und dies führt uns wieder zurück zu den beiden eingangs erwähnten Voraussetzungen erfolgreicher kollektiver Organisierung: Wollen Gewerkschaften den vielfältigen Identitäten und Interessen der atypisch, zunehmend prekär oder zeitweise gar nicht Beschäftigten, gerecht werden, müssen sie erstens ihr ganzes Gewicht – einschließlich der „noch“ privilegierten Stammklientel – in den politischen Kampf einbringen, und die Vielfalt und Heterogenität der Arbeitswelt anerkennen und entsprechend repräsentieren. Es wäre durchaus angebracht auch in der Gewerk- schaftsspitze Frauen, prekär Beschäftigte und junge ArbeitnehmerInnen entsprechend ihrer realen Bedeutung einzubeziehen. Und zweitens ginge es darum, der Gewerkschaft auf allen Ebenen (betrieblich, außer- und überbetrieblich) ein positiv besetztes „Gesicht zu verleihen“ – und dies kann durchaus auch jenes engagierter BetriebsrätInnen sein – um die nötigen sozialen Beziehungen sowie Identifikationsmöglichkeiten aufzubauen, ohne die kaum normative Bindungen und kollektive Identitäten entstehen und aufrechterhalten werden können.

Literatur

Behrens, Martin (2005): „Die Rolle der Betriebsräte bei der Werbung von Gewerkschaftsmitgliedern“. In: WSI Mitteilungen (6), S. 329-338

Dølvik, Jon/Jeremy Waddington (2002): „Private sector services: challenges to European Trade Unions“. In: Transfer 3(2), S. 356-376

Ebbinghaus, Bernhard (2002): „Trade unions' changing role: membership erosion, organisational reform, and social partnership in Europe“. In: Industrial Relations Journal 33(5), S. 465-483

Hassel, Anke (1999): Gewerkschaften und sozialer Wandel. Mitgliederrekrutierung und Arbeitsbeziehungen in Deutschland und Großbritannien. Baden-Baden

Keller, Berndt/Hartmut Seifert (Hg.) (1995): Atypische Beschäftigung. Verbieten oder gestalten? Köln

Kotthoff, Hermann (1998): „Mitbestimmung in Zeiten interessenpolitischer Rückschritte. Betriebsräte zwischen Beteiligungsofferten und gnadenlosem Kostensenkungsdiktat“. In: Industrielle Demokratie. Jg. 5, Heft 1, S. 76-100

Mückenberger, Ulrich (1985): „Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft?“. In: Zeitschrift für Sozialreform, 31 (7 und 8), S. 415-434 / 457-475

Müller-Jentsch, Walter (1997): Soziologie der Industriellen Beziehungen. Eine Einführung. Frankfurt/Main und New York

Negt, Oskar (1989): Die Herausforderung der Gewerkschaften. Plädoyers für die Erweiterung ihres politischen und kulturellen Mandats. Frankfurt/New York

Pernicka, Susanne (2006): „Organising Dependent Self-Employed Workers: Theoretical Considerations and Empirical Findings“. In: European Journal of Industrial Relations 12 (2), S. 123-140

Pernicka, Susanne/Sabine Blaschke (2006): „Selbstständige - (k)eine Klientel für Ge-werkschaften?“. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 31(2), S. 29-53

Pernicka, Susanne/ Andreas Aust/Hajo Holst/ Georg Adam/Sabine Blaschke/Kurt Mayer/ Monika Feigl-Heihs (2006): Kollektives Erwachen? Gewerkschaftliche Interessenvertretung für atypisch Beschäftigte. >node< Projekt- endbericht. Wien, Berlin, Osnabrück

Tálos, Emmerich (1999): „Atypische Beschäftigung in Österreich“. In: E. Talos (Hg.): Atypische Beschäftigung. Internationale Trends und sozialstaatliche Regelungen. Wien, S. 252-284

Traxler, Franz/Alois Guger/Ulrich Runggaldier (2000): European Employment and Industrial Relations Glossary: Austria. Dublin

Zoll, Rainer (1998): „Alltagssolidarität und Individualismus“. In: Heiner Keupp (Hg.): Der Mensch als soziales Wesen. Sozialpsychologisches Denken im 20. Jahrhundert. Ein Lesebuch. München und Zürich

Susanne Pernicka ist Universitätsassistentin am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien und beschäftigt sich u.a. mit den Themen Arbeitsbeziehungen und atypische Beschäftigung im internationalen Vergleich.

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