Diese Ausgabe der Kulturrisse beschäftigt sich mit der Frage, was das Politische am Kampf gegen Antisemitismus sein kann. Nun wäre es naheliegend, sich dabei mit bestehenden politischen AkteurInnen, mit ihren Forderungen, Positionen und politischen Strate

Was hier zentral zur Debatte stehen soll, ist vielmehr die Frage, was es überhaupt bedeutet, von einem "politischen Anti-Antisemitismus" zu sprechen.

Eines vorweg: Es geht in den folgenden Überlegungen keineswegs darum, irgend so etwas wie ein bestimmtes Ideal oder auch nur ein Ensemble von allgemeinen Kriterien aufzustellen, an denen ein politischer Anti-Antisemitismus zu messen wäre. Ebenso wenig geht es um eine empirische Auflistung jener Zusammenhänge, die in einem mehr oder weniger bestimmten Sinn einem politischen Anti-Antisemitismus zugerechnet werden könnten. Was hier zentral zur Debatte stehen soll, ist vielmehr die Frage, was es überhaupt bedeutet, von einem "politischen Anti-Antisemitismus" zu sprechen.

Die Frage drängt sich aus mehreren Gründen auf: Zunächst hat man sich heute vielfach daran gewöhnt, Antisemitismen und Rassismen unter ideologie- oder kulturanalytischen Gesichtspunkten zu untersuchen – etwa als je spezifisch funktionierende Konstruktionen von "Andersheit", die zur verbreiteten phantasmatischen Ausstattung von Mehrheitsbevölkerungen gehören, vermittels deren die (kalkulierte oder nicht kalkulierte) Aktualisierung entsprechender Affekte erfolgen kann und die sich zugleich als konstitutive Elemente in der symbolischen Ordnung politischer Institutionen oder Rituale verfestigt haben bzw. reproduzieren. Eine derartige Betrachtungsweise hat zweifellos Unverzichtbares zum Verständnis der Funktionsweise von Antisemitismen und Rassismen beigetragen. Sie lässt allerdings eine wesentliche Frage offen, die den Gestus kritischer Ideologieanalysen in einem allgemeineren Sinn betrifft: Ideologiekritik ist in aller Regel durch eine Praxis des Entzifferns von Ideologemen charakterisiert; sie vermag allerdings kaum Auskunft darüber zu geben, wie sich diese "Ideologeme" (die die Ideologiekritik schlechterenfalls als in bestimmten Handlungen gewissermaßen in Form von Sinneinheiten niedergelegt voraussetzt) konkret in politische Strukturen, Handlungen oder Affekte übersetzen, d.h. wie sie die Bedingungen ihrer konkreten politischen Wirksamkeit entfalten. Es macht indes einen wesentlichen Unterschied, ob sich Antisemitismen als "rein ideologisches" Phänomen manifestieren oder aber in Gestalt der Nürnberger Rassengesetze oder der Novemberpogrome von 1938 – und diesen Unterschied gilt es zu denken.

Umgekehrt ist – zumal es "reine Ideologizität" streng genommen allenfalls als Grenzfall geben kann und Ideologien stets auf entsprechende Anwendungspraxen angewiesen sind – aus diesem Unterschied keineswegs etwa auf eine "Harmlosigkeit" postnazistischer Antisemitismen zu schließen. Vielmehr stellt sich gerade die Frage nach dem konkreten politischen Fortleben des Antisemitismus (nicht zuletzt in diesem Sinn ist Adornos Diktum zu verstehen, er betrachte "das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie"). Mehr noch, und in einem allgemeineren Sinn: Gerade heute, da wir einer Wieder- und Neubelebung sehr verschiedenartiger Antisemitismen beiwohnen – von der alten und neuen Rechten bis zu Mel Gibsons Blockbuster "Die Passion Christi", von (manchen) muslimischen bis zu (manchen) globalisierungskritischen Kontexten –, bedarf es neuer Aufmerksamkeiten für die spezifischen politischen Gemengelagen, in denen sich diese Antisemitismen aktualisieren.

Diese neuen Aufmerksamkeiten werden sich nicht an der ideologiekritischen Entlarvung von "Wiedergängern" beruhigen können – ebenso wenig wie etwa an der verbreiteten Unterscheidung zwischen religiös motivierten Antijudaismen und modernen Antisemitismen. Der Historiker Yosef H. Yerushalmi hat, unter Verweis auf die im Spanien des 15. und 16. Jhs. (und später auch in Portugal) erlassenen, den aufgezwungenen Massenkonversionen folgenden antijüdischen "Blutreinheitsgesetze", die Brüchigkeit dieser Unterscheidung überzeugend dargelegt. Das iberische Beispiel einer frühneuzeitlichen "Gesellschaft (…), die sozusagen um rassisches Selbstverständnis ringt" (Yerushalmi), ist im Übrigen auch deshalb instruktiv, weil sich in diesem Ringen anti-jüdische Verfolgung und Diskriminierung sowie die antimuslimische Reconquista aufs Engste verbunden haben. Auch diese Verflechtungen haben ihr Nachleben, nicht zuletzt in den Diskussionen um das "christliche Erbe" Europas, deren eigentlichen Gegenstand ja weniger die christliche Religion als vielmehr eine Norm der "kulturellen" Zusammensetzung bildet; auch hier allerdings können wir nicht einfach von "Wiedergängern" ausgehen.

So haben die Delegitimationen, die Antisemitismen und Rassismen während der letzten 60 Jahre erfahren haben, paradoxerweise neue Brechungen und Legitimationspotenziale geschaffen, die bisweilen bizarre Phänomene hervortreiben: Sie ermöglichten es z.B. dem belgischen Vlaams Blok (nunmehr: Vlaams Belang), seinen antimuslimischen Rassismus als politische Anwaltschaft der Antwerpener Juden und Jüdinnen darzustellen (was den in relativ ungebrochener Traditionslinie zur flämischen Nazi-Kollaboration stehenden Vlaams Blok freilich nicht daran hindert, auch antisemitisch zu sein). Ähnliche Umweglegitimationen spielen sich auch innerhalb der Linken ab, insbesondere als Reaktionsbildung auf den Israel/Palästina-Konflikt: Die durch das Schlagwort des "Antizionismus" verbrämten Antisemitismen diverser sich "pro-palästinensisch" und "antiimperialistisch" gebender Gruppierungen sind seit langem bekannt; im Spektrum "antideutscher" Positionen wiederum – angetreten u.a., um sich dem Antisemitismus der "Antiimps" entgegenzustellen – zeichnen sich mittlerweile breite Ränder unverhohlener Islamophobie ab.

Es wären also neue Topographien des Antisemitismus zu erarbeiten, die der historisch-politischen Komplexität und Heterogenität antisemitischer (und rassistischer) Formationen Rechnung tragen, ohne darüber eine Legitimationsbasis für andere Verwerfungen bereitzustellen. Dies führt uns allerdings zu einer zweiten zentralen Frage hinsichtlich der Rede von einem "politischen Anti-Antisemitismus", nämlich jener nach der spezifischen Positivität seines eigenen Handelns: Während die Formel eines "politischen Antirassismus" – wo sie sich mit Foucault auf ein "historisches Wissen der Kämpfe" bezieht, um die Positivität antirassistischen Handelns hervorzukehren – beispielsweise auf die Einforderung rechtlicher Gleichstellung oder auf migrantische Arbeits- und Mietkämpfe verweisen kann, scheinen ähnliche Forderungen im Kontext eines politischen Anti-Antisemitismus sehr viel weniger deutlich auf der Hand zu liegen. Die Bewegungen der jüdischen Emanzipation in Europa gelten als Phänomen des 19. Jahrhunderts, die Auseinandersetzungen im Anschluss an die systematische antisemitische Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus mögen sich uns heute als "Kampf um die Erinnerung" oder auch als "Kampf gegen das Vergessen" darstellen. Weniger als in anderen politischen Konfliktfeldern scheint sich dergestalt der Eindruck einstellen zu wollen, dass in der Spezifik des Kampfes das Politische als solches aktuell auf dem Spiel steht.

Vielleicht liegt aber gerade in einer solchen Betrachtungsweise ein gravierender Irrtum: Warum sollte etwa das jahrzehntelange Ringen um die Strafverfolgung von Kriegsverbrechern oder um Restitution nicht zu einem "historischen Wissen der Kämpfe" beitragen? Warum sollten die gedenk- und geschichtspolitischen Auseinandersetzungen vor allem in Deutschland und Österreich, die heute einmal mehr von der Neuformierung allenfalls um ein paar Pietätsgesten ergänzter nationaler Unschuldsnarrative überdeckt werden, nicht den Sinn des Politischen zu verschieben geeignet sein? Wäre nicht genau die Unmöglichkeit der bruchlosen Identifikation einer "Nation" mit sich selbst ein Ansatzpunkt für eine Reihe von postnationalen Redefinitionen des Politischen? Und warum schließlich sollten wir nicht über den politischen Sinn der oft wie "selbstverständlich" erscheinenden Allianzen und Solidarisierungen nachdenken, in denen sich bestimmte anti-antisemitische Positionen mit anderen politischen Kämpfen verbinden?

Kommen wir vor dem Hintergrund dieser Überlegungen auf unser Ausgangsthema zurück, nämlich die Frage nach der möglichen Bedeutung der Rede von einem "politischen Anti-Antisemitismus". Ich möchte abschließend eine doppelte Antwort vorschlagen:

1. Politischer Anti-Antisemitismus ist – wie im Übrigen auch, analog dazu, politischer Antirassismus – dadurch charakterisiert, dass er der notwendigen Kritik des Antisemitismus die produktive Affirmation allgemeinerer (genauer: über die Spezifik der Konfliktsituation hinaus bedeutsamer, gerade deshalb aber die Situation als solche redefinierender) politischer Kategorien hinzufügt. Diese Bestimmung lässt sich an diversen historischen Beispielen eines politischen Anti-Antisemitismus erhärten, von liberalen Affirmationen der "politischen" Emanzipation bzw. Anerkennung über die Marx’sche Affirmation einer "gesellschaftlichen" oder "menschlichen" Emanzipation bis zur Affirmation der Verknüpfung von "Volk" und "Staat" im Zionismus. Wie leicht zu sehen ist, ist daher die Rede von einem politischen Anti-Antisemitismus auch nicht als in sich selbst normativ zu verstehen, sondern verweist vielmehr auf einen grundsätzlich offenen, wenn auch historisch geprägten Horizont von möglichen Bezugnahmen auf politische Kategorien, die jeweils als normativ gesetzt werden mögen, grundsätzlich aber der Diskussion offen stehen. Diese Kategorien können sich im Übrigen, insbesondere in ihrer konkreten Ausformulierung, durchaus als in sich widersprüchlich und problematisch erweisen, wie etwa an Karl Marx’ Aufsatz "Zur Judenfrage" deutlich wird, in dem sich der Entwurf einer radikalen gesellschaftlichen Emanzipation mit den wüstesten antisemitischen Stereotypen verbindet. (Nebenbei gesagt: Es wäre hilfreich – gerade für die kritische Auseinandersetzung mit linken Antisemitismen, ihren notorischen Assoziationen "der Juden" mit "dem Kapital" oder einer unterdrückenden Macht –, wenn man sich auch innerhalb der marxistisch geprägten Linken darauf verständigen könnte, dass Marx’ Aufsatz anti-antisemitisch und zugleich antisemitisch ist; es käme darauf an, ihn in beiden Aspekten ernst zu nehmen.)

2. Das zweite wesentliche Bestimmungsmoment eines politischen Anti-Antisemitismus (und auch hier gilt die Parallele zum politischen Antirassismus) scheint mir in einer Kategorie politischen Handelns zu liegen, die bislang selten theoretisiert wurde und die mit Maurice Blanchot als refus, d.h. als Zurückweisung oder Verweigerung bezeichnet werden kann. Der Kontext, der Blanchot eine solche Verweigerung umkreisen lässt – die Desertionen junger Franzosen zur Zeit des französischen Algerienkrieges –, zeigt, dass es sich dabei um mehr handelt als um eine bloße Ablehnung oder ein Sich-Entziehen angesichts eines gegebenen Konfliktszenarios. Die Verweigerung ist vielmehr als positiver politischer Akt zu verstehen, der die Inakzeptabilität dessen, worauf sich die Zurückweisung bezieht, erst als politischen Tatbestand herstellt und mithin die notwendige Voraussetzung dafür bildet, dass sich etwa ein politischer Anti-Antisemitismus auf allgemeinere politische Kategorien beziehen kann. (Damit ist natürlich u.a. auch gesagt: Erst im Horizont des politischen Anti-Antisemitismus bzw. unter der Voraussetzung der Zurückweisung, die ihn eröffnet, sind die politischen Kategorien, mit denen er sich im Einzelnen verbindet, diskutierbar und kritisierbar.) Dieser Akt aber kann weder in "zentrale Mahnmale" oder "Gedenkveranstaltungen" ausgelagert werden (sondern erfordert vielmehr eine grundlegende Neubestimmung geschichtspolitischer Praxis), noch auch ist er letztlich über ideologiekritische Entlarvungen (samt den sie mitunter begleitenden Selbstgewissheiten) einzulösen. Er bedarf der Wiederholung und Erneuerung, um Potenziale des Verhaltens zu nach wie vor antisemitisch strukturierten Verhältnissen freizusetzen, die gleichwohl ihrerseits Veränderungen unterworfen sind.


Stefan Nowotny ist Philosoph und lebt in Wien.

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