Europäische Kulturpolitik - Marktintegration im Kulturbereich
Im Sinne des neoliberalen Diskurses und der zunehmenden Kommerzialisierung kultureller Prozesse sind die Kulturförderprogramme seit Maastricht darauf ausgelegt, kulturelle Ressourcen in ökonomisches Kapital umzuwandeln.
Lidija Krienzer-Radojević
Europäische Kulturpolitik – Marktintegration im Kulturbereich
Einer beliebten Mär zufolge ist Europa eine Ausnahme, was sich besonders im europäischen Bekenntnis zur sozialen Gleichheit ausdrückt. Der Glaube an diese Geschichte wurde allerdings durch die Entwicklung seit 2008 stark erschüttert.[i] Die sogenannte Schuldenkrise an den Peripherien der Europäischen Union, die Flüchtlingskrise sowie die EU-Austritts-Diskussionen zeigen, dass ein europäischer Exzeptionalismus nicht existiert. Die strukturelle Krise der EU hat nicht nur die Legitimität ihrer Institutionen infrage gestellt, sondern auch ein Demokratiedefizit offenbart. Die EU wird vermehrt als ein Projekt der Eliten wahrgenommen, welches den Alltag der Bevölkerung zunehmend bestimmt. Die Flüchtlingskrise hat gezeigt, dass „europäische Ideale“ nicht länger als Mobilisierungsfaktor wirken, während die Definition des „Europäischen“ von rechten Diskursen herausgefordert wird, die auf einer post-modernen Version der „Blut-und-Boden“-Ideologie beruhen. Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass sich die EU mit einer Legitimationskrise konfrontiert sieht. Schon der Integrationsprozess der 1980er-Jahre war von Skeptizismus geprägt und damals suchte man nach Instrumenten zur Legitimierung der EU.
Um eines dieser Instrumente geht es auch in diesem Text: Die europäische Kulturpolitik wurde ursprünglich geschaffen, um die europäische Integration als einen gemeinschaftsbildenden Prozess zu verkaufen (statt als marktbildendende Maßnahme). Die kulturellen Aktivitäten der EU reichen in die 1970er-Jahre zurück. Der entscheidende Impuls erfolgte jedoch in den 1980er-Jahren, als versucht wurde, das Ansehen der Europäischen Gemeinschaft mit Hilfe von Kultur zu verbessern. Parallel zur Entwicklung des gemeinsamen Binnenmarktes und der Transformation zur Union wurde der neoliberale Mainstream in die europäische Politik integriert. Diese Zeit war von massiven Streiks, Demonstrationen und Straßenkämpfen zwischen organisierten ArbeiterInnen und einem repressiven Staatsapparat geprägt, und die großen europäischen Institutionen sahen sich mit einem tiefgreifenden, öffentlichen Misstrauen konfrontiert. Als klar wurde, dass Marktintegration alleine nicht ausreichen würde, um das Vertrauen der BürgerInnen in die EU zu gewinnen und damit ihre Legitimität zu gewährleisten, stellte man die kulturelle Bedeutung der EU in den Vordergrund und verlieh der EU damit eine neue Identität. Kultur wurde als Werkzeug begriffen, um die emotionale Identifikation der Öffentlichkeit mit dem europäischen Projekt möglichst effizient zu fördern.
Zu Beginn waren kulturelle Maßnahmen den wirtschaftlichen Aktivitäten der EU klar untergeordnet und verfügten weder über angemessene Mittel noch über die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen. Die Idee vom freien Verkehr der Kulturarbeit und von Kulturschaffenden hatte zwar schon davor existiert[ii], doch erst das wachsende Bewusstsein für die Entfremdung der Bevölkerung von einem zunehmend technokratischen Europa führte dazu, dass die Konstruktion einer „europäischen Identität“ zur Priorität erklärt wurde. Das Konzept der Identität bezieht sich immer auf ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Wertegemeinschaft und in diesem Fall sollten EU-Maßnahmen im Kulturbereich die Legitimität der eigenen Politik stärken. In Übereinstimmung mit der Präambel der Römischen Verträge von 1957, wonach die „Grundlage für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ gelegt werden sollte, wurden eine Reihe symbolischer Initiativen gestartet. Diese reichten von der Einführung einer gemeinsamen Flagge, der Europahymne und eines rituellen Kalenders bis zur Erfindung der „europäischen Kulturhauptstädte“. Allerdings entpuppte sich diese vermeintliche „Europäisierung“ als Ansammlung standardisierter Werte und Praktiken, die von den europäischen Eliten von oben herab festgelegt wurden und nicht dafür geeignet waren, die Herausbildung einer Wertegemeinschaft zu fördern.
Die Schaffung des europäischen Binnenmarktes in den späten 1980er-Jahren erzeugte ein zusätzliches Momentum für eine verstärkte kulturelle Aktivität der EU. Die gemeinschaftlichen Aktionen in diesem Bereich wurden aufgrund regelmäßiger Treffen besser strukturiert. Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht im Jahr 1992 erlangte die EU schließlich auch formell die Befugnis, sich im Kulturbereich auf der Basis des umstrittenen Prinzips „Einheit in Vielfalt“[iii] zu engagieren. Diese formelle Anerkennung sollte aber nicht einer europaweiten Kulturpolitik den Weg bereiten, um damit nationale Förderstrukturen zu ersetzen, sondern es sollten Regulierungsmechanismen zur Unterstützung des instrumentellen Potentials von Kultur geschaffen werden, um damit die Konkurrenzfähigkeit der europäischen (Kultur-)Industrie zu gewährleisten.[iv] Kultur wurde dabei als eine Quelle für Kreativität beschrieben, welche sich über ihr Potential für soziale und technologische Innovation definiert und als wichtiger Motor für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und der Schaffung von Arbeitsplätzen fungiert. Das im Rahmen der Lissabon-Strategie vom Jahr 2000 vorgestellte Konzept der „Wissensgesellschaft“ erweiterte diese Definition von Kultur noch. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verschränkung von Kultur, Wirtschaft und Technologie kommt der kulturellen Diversität demnach die Aufgabe zu, die europäische (Kultur-)Industrie mit Inhalten zu versorgen, während kulturelle Aktivitäten marginalisierten Gruppen dabei helfen sollen, ihren Platz in der Gesellschaft durch berufliche Integration wiederzuerlangen.
Derartige Querschnittsthemen ermöglichen AkteurInnen im Kulturbereich den Zugang zu bereits existierenden Programmen, deren Ausrichtung nicht unbedingt kulturell ist. Im Sinne des neoliberalen Diskurses und der zunehmenden Kommerzialisierung kultureller Prozesse sind die Kulturförderprogramme seit Maastricht darauf ausgelegt, kulturelle Ressourcen in ökonomisches Kapital umzuwandeln. Daher werden nur jene Projekte und Veranstaltungen unterstützt, die als Partnerschaft oder Netzwerk organisiert sind. Um überhaupt förderungswürdig zu sein, müssen Projekte in großem Maßstab organisiert sein und auf einer öffentlichkeitswirksamen Zusammenarbeit basieren. Dabei geht es weniger um die Bewahrung einer distinktiven europäischen Identität, sondern vielmehr darum, die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Kulturindustrie am Weltmarkt zu stärken. Im Unterschied zu früheren Bestrebungen, die gemeinsamen kulturellen Wurzeln hervorzuheben, hat sich die Kommission ab 1992 für eine praktischere Auslegung des „europäischen Gedanken“ entschieden, der mehr Wert auf die Form als auf den Inhalt legt. Die Idee von kultureller Einheit wurde dabei von der Vorstellung abgelöst, dass grenzüberschreitende Kooperationen und europäische Netzwerke zwischen Kulturschaffenden, kulturellen Entrepreneurs und Kulturinstitutionen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten zur Entwicklung einer „europäischen Kultur“ führen.
Die Herausbildung eines funktionalen Netzwerks zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen im Kulturbereich hatte große Auswirkungen auf die lokale Produktion und die Konsumation von Kultur. In der Folge des neoliberalen Restrukturierungsprozesses, der von der EU reguliert und von den Mitgliedsstaaten implementiert wurde, wurden die Mittel im Kulturbereich ab der Mitte der 1980er-Jahre sukzessive reduziert. Die jüngsten Krisen der EU beschleunigten diesen Trend noch weiter. Während Kulturförderprogramme der EU den Kulturschaffenden und kulturellen Entrepreneurs wertvolle Finanzierungsquellen eröffnen – was angesichts der sinkenden Unterstützung auf nationaler Ebene immer wichtiger wird – führen die Mechanismen der Teilfinanzierung zu einer Bevorzugung von Gruppen und Organisationen mit hohem Organisationsgrad und professioneller Öffentlichkeitsarbeit, was wiederum die Herausbildung einer lokalen Kulturindustrie begünstigt. Da die von der EU ausgeschütteten Mittel nicht zur Basisfinanzierung herangezogen werden können, sind kleine KulturproduzentInnen und Newcomer von diesen Förderungen weitgehend ausgeschlossen. Zugleich werden EU-Mittel von vielen Nationalstaaten als Aufforderung betrachtet, dem Kulturbereich die finanzielle Unterstützung zu entziehen. Insbesondere für den Fall, dass KulturproduzentInnen über keine alternativen Einkommensquellen verfügen, sind diese also zunehmend von finanzieller Prekarisierung betroffen – einem direkten Resultat dieser ungerechten und wirtschaftsorientierten Kulturpolitik der EU.
Obwohl sich die EU-Kulturpolitik darum bemüht, möglichst große Teile der Bevölkerung anzusprechen, werden BürgerInnen dabei zu bloßen KonsumentInnen der Marke „Europa“ degradiert. Der Begriff der „europäischen BürgerInnen“ verweist in diesem Zusammenhang auf eine äußerst nützliche Form von Bürgerbeteiligung: Diese können sich als BesucherInnen an kulturellen Veranstaltungen beteiligen, vorausgesetzt sie sind in der Lage, sich die entsprechenden Eintrittskarten zu leisten. Im Unterschied zur „Bewusstseins-Kampagne“ der 1980er-Jahre sind Kulturnetzwerke und Kooperationen heute einzelnen Organisationen dabei behilflich, deren individuelle Ziele zu erreichen, statt von der EU definierte Werte zu vertreten. Dies wirkt sich auch auf die Ausrichtung der Politisierung der Bevölkerung aus: Wenn langfristig die (progressive) Kulturproduktion einzig als kulturelles Entrepreneurship gefördert wird und dem Publikum nur die Rolle von KonsumentInnen zugestanden wird, während es von einer aktiven Mitgestaltung der kulturellen Entwicklung ausgeschlossen bleibt, dann wird damit die historisch entwickelte, materielle Basis für gesellschaftliche Emanzipation zerstört. Als die einzigen kulturellen Inhalte, die zur Bildung einer Gemeinschaft etwas beitragen können, bleiben in der Folge nur traditionelle Kultur und Folklore übrig. Diese bilden die materielle und ideologische Grundlage für die aktuellen rechten Diskurse.
Die internen Widersprüche der europäischen Kulturpolitik sind zweifellos ein Mitgrund für den derzeit vorherrschenden, konservativen (nationalistischen) Diskurs in der EU. Sie stehen mit dem Entwicklungsprozess der EU in einem direkten Zusammenhang und bringen auch einen Wandel des Kulturbegriffs zum Ausdruck. Was als Projekt zur Bildung einer gemeinschaftlichen Identität mittels Massenkampagnen begann, hat sich zu einer Förderung von marktorientierten, kulturellen Aktivitäten entwickelt, mit dem Ziel Arbeitsplätze zu schaffen, das Wirtschaftswachstum zu fördern und die Konkurrenzfähigkeit des privaten Sektors zu steigern. Bei der Erfindung des Kulturbereichs in der EU handelt es sich um eine Vermischung von Fördersystemen, symbolischen Initiativen und den Versuchen, das EU-Recht im Sinne des Binnenmarktes zu harmonisieren. Die europäische Kulturpolitik unterstützt damit zwar das instrumentelle Potential von Kultur, ignoriert aber ihren emanzipatorischen Wert.
Lidija Krienzer-Radojević ist Doktoratsstudentin an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz. Sie ist Mitglied im Vorstand der IG Kultur Steiermark und arbeitet als Gastlektorin am Institut für zeitgenössische Kunst an der TU Graz.
[i]Aus dem Englischen übersetzt von Chris Hessle.
[ii]Im Jahr 1977 schuf die Europäische Kommission den Kultursektor im Rahmen der Mitteilung zur „Gemeinschaftsaktion im kulturellen Bereich“ mit dem primären Ziel, den Freihandel im Kulturbereich zu gewährleisten. Quelle: http://aei.pitt.edu/5321/1/5321.pdf (aufgerufen am 29.4.2017).
[iii]Der Artikel 128 des Vertrags von Maastricht über die Europäische Union (mittlerweile Artikel 151 im abgeänderten Vertrag von Amsterdam) hält fest: „Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes.“ Quelle: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:11992M/TXT (aufgerufen am 29.4.2017).
[iv]Im Jahr 2007 präsentierte die Europäische Kommission die „Mitteilung über eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung“: „Europas auf Vielfalt beruhender kultureller Reichtum ist zudem auch immer mehr ein großer Vorzug in einer virtuellen und wissensbasierten Welt. [...] [K]reative Unternehmer und eine lebendige Kulturindustrie [stellen] eine einzigartige Innovationsquelle für die Zukunft dar [...]. Dieses Potenzial muss noch stärker zur Geltung gebracht und voll genutzt werden.“ Quelle: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2007:0242:FIN… (aufgerufen am 29.4.2017).