Irgendwie anders? Geschlechterkonstruktionen und performativer Antisemitismus

Die Artikulation von Differenz, Fremdheit oder "Andersheit" ist zumeist auch die Artikulation von Geschlecht – das gilt ebenso für den Antisemitismus. Die Analyse von Antisemitismus kann daher nicht ohne die Kategorie Geschlecht auskommen.

Die Artikulation von Differenz, Fremdheit oder "Andersheit" ist zumeist auch die Artikulation von Geschlecht – das gilt ebenso für den Antisemitismus. Die Analyse von Antisemitismus kann daher nicht ohne die Kategorie Geschlecht auskommen. Juden™ [1] waren und sind nicht einfach "irgendwie anders", sondern sie sind "anders" als "Frauen" oder als "Männer" – schwach oder hässlich, verführerisch oder herrisch. Zuschreibungen, die unauflöslich mit Geschlechterbildern verbunden sind und über diese artikuliert werden. Besonders deutlich wurde dies im nationalsozialistischen, rassistischen Antisemitismus und seinen festgeschriebenen Normen von "arischer" Männlichkeit und "Weiblichkeit" konstruiert, von denen sich die Geschlechterkonstruktionen des "Jüdischen" abgrenzten.

Mit dieser Fokussierung lassen sich jedoch nicht nur neue Erkenntnisse über die Artikulation von antisemitischen Ressentiments erlangen, sondern auch über das Funktionieren des Antisemitismus selbst: Losgelöst von abstrakten Rassevorstellungen muss Antisemitismus zusätzlich in der Form seines alltäglichen Vollzugs verstanden werden. Das hat natürlich auch Folgen für anti-antisemitische Strategien, in denen aus dieser Perspektive nicht so sehr die allgemeine Aufklärung als der Kampf gegen die praktischen Logiken des Alltags in den Vordergrund rückt.

Im Folgenden sollen die angesprochenen Punkte und ihre Implikationen erläutert werden:

(1) Körperbilder waren im Antisemitismus stets allgegenwärtig.

Das lässt sich vom Wilhelminischen Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zum Nationalsozialismus zeigen. Die wohl populärsten Beispiele sind die unzähligen antisemitischen Postkarten um die Jahrhundertwende, Arthur Dinters antisemitischer Klassiker "Die Sünde wider das Blut" von 1917 und der Propagandafilm "Der ewige Jude" von 1940. Alle diese medialen, tausendfach gesehenen oder gelesenen Werke arbeiten an zentralen Stellen mit Körperbildern und haben in der Darstellung von hässlichen, deformierten jüdischen™ Körpern ihren gemeinsamen Bezugspunkt. Körperdarstellungen waren fester Bestandteil unterschiedlicher Medien wie Karikatur, Literatur, Fotografie, Malerei oder Film.

(2) Der Körper galt/gilt den AntisemitInnen als "Spiegel des Charakters".

Aus "wissenschaftlicher" Perspektive wurde diese Annahme zum erstenmal von Johann C. Lavater in seinen "Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe" (erschienen von 1775–78) vorgebracht. Seine "Erkenntnisse" wurden in der Folge von antisemitischen Rassetheoretikern wie Arthur Gobineau (1853), Houston Steward Chamberlain (1899) oder Hans Günther (1930) begeistert aufgenommen. Ein "hässlicher" Körper galt ihnen nicht einfach mehr einfach als "äußerlich" hässlich, sondern als Ausdruck eines verdorbenen Geistes oder einer schmutzigen Seele. Indem der Körper so zu einem unfehlbaren Zeichen des ihm innewohnenden Charakters wurde, konnte er zum bevorzugten Einsatzpunkt von antisemitischen Zuschreibungen avancieren.

(3) Antisemitische Körperbilder arbeiteten/arbeiten mit normativen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit.

Es war nie der schwache oder verführerische jüdische Körper™ im allgemeinen, der verachtet wurde, sondern der schwächliche Körper des jüdischen Mannes™ oder die verführerischen Figur der "Schönen Jüdin". Die Grammatik der antisemitischen Darstellungen bedient sich nicht einfach beliebiger Koordinaten, sondern sie macht sich jene Matrix von Zweigeschlechtlichkeit zunutze, die von der Aufklärung eingesetzt worden war: Der Mann als rationales und starkes, die Frau als emotionales und schönes Subjekt. Juden™ und Jüdinnen™ bildeten die Folie für jene Eigenschaften, die nicht in dieses bürgerliche Bild integrierbar waren und galten als schwache, tuntige Männer oder emanzipierte "Mannweiber". Durch das Jüdische™ drohte daher die traditionelle Geschlechterordnung in der Phantasie der AntisemitInnen zu verschwimmen, ja für Momente sogar umzukippen, wenn z.B. Mythen von der angeblichen Menstruation der männlichen Juden™ (Menstruatio-Vicaria-Hypothese) kursierten.

(4) Die Macht antisemitischer Geschlechterbilder ging/geht mit der Explikation der Norm einher.

Die Spezifik antisemitischer Darstellungen einer jeweiligen Epoche ist nicht in den Bildern selbst zu suchen, sondern auf einer strukturellen Ebene. Welche anderen Bilder existier(t)en als Gegenpole zu den Jüdischen™, gegen wen wurden diese in Stellung gebracht? Im Nationalsozialismus gab es explizite Normen von "arischer Männlichkeit" und "arischer Weiblichkeit". Haltung und Gestalt des "Ariers" sahen die AntisemitInnen durch einen "adeligen Wuchs" gekennzeichnet, ebenso wie durch das helle, goldblonde Haar und die blauen, strahlenden Augen usw usf. Erst vor dem Hintergrund solcher Normen konnten die Geschlechterbilder des Jüdischen™ ihre Wirkmächtigkeit erreichen. In dem Maße, wie die Norm explizit wurde, bildeten die Bilder des Jüdischen™ immer eindeutigere Kontraste, Abweichungen und "Perversionen".

(5) Die Präsentation von Geschlechterbildern trug /trägt aktiv zur Herstellung einer "antisemitischen Weltsicht" bei und ist nicht nur einfach Ausdruck einer bestehenden Ideologie.

Geschlechterbilder vermochten eine Vielzahl von Ressentiments zu verdichten, so dass das Vorurteil schließlich unmittelbar aus den Körpern selbst zu entspringen schien. Geschlechterbilder bildeten so im Alltag praktische Einheiten für die Tradierung und Weitergabe des antisemitischen Codes als Witz, Lästerei oder Gerücht. Geschlechterbilder sind niemals einfach Repräsentationen antisemitischer Ideen oder Oberflächenphänomen eines tiefer liegenden Kerns, sondern sie sind Performanzen. Das heißt, sie stellen nicht einfach nur etwas dar, sondern indem sie darstellen, tun sie zugleich etwas: Sie machen das von ihnen Gezeigte zu gesellschaftlicher Realität. Geschlechterbilder haben die Kraft, aus Zeichen "Fleisch" werden zu lassen und den real existierenden JüdInnen eine antisemitische Phantasie aufzuoktroyieren. Die hegemoniale Einrichtung von Antisemitismus funktionierte im Nationalsozialismus mit Hilfe dieser performativen Macht geschlechtlicher Bilder.

(6) Die Analyse von Geschlecht macht Antisemitismus als eine materielle Prozessualität sichtbar.

Antisemitismus existierte im Nationalsozialismus nicht allein als Idee, als wissenschaftlicher Befund oder als behördliche Verordnung, sondern durch seinen beständigen materiellen Vollzug. "Prozessualität" soll hier heißen, dass der Antisemitismus durch keinen singulären Ermächtigungsakt eingesetzt wurde, um von da ab die "Bürde" eines "deutschen Volkes" darzustellen, sondern dass er nur in dem Maße existieren konnte, wie er sich alltäglich zu reproduzieren vermochte. Antisemitismus existierte nur durch den Prozess seiner beständigen (Wieder-)Herstellung. Und diese – das wollen wir mit "materiell" betonen – bestand eben nicht in der Weitergabe von Ideen oder wissenschaftlichen Befunden, sondern in konkret fassbaren Körper- und Geschlechterbildern, wie sie alltäglich in den Medien zu finden waren.

(7) Eine anti-antisemitische Strategie könnte versuchen, in den (Re-)Produktionsprozess des Antisemitismus zu intervenieren.

Dieser findet auch heute noch nicht auf einer "wissenschaftlichen", sondern auf einer Alltagsebene statt. Die Logik des Alltags ist nicht die Logik der Vernunft, weshalb eine allgemeine Aufklärung nur in begrenztem Maße als probates Interventionsmittel verstanden werden kann. Ein Schnitt in die Struktur des Antisemitismus könnte aber dadurch zu Stande kommen, dass einer seiner zentralen Artikulationsmechanismen, die Darstellung von "Andersheit" blockiert wird. Das würde bedeuten, dass in dem Maße, wie die Geschlechterkonstruktionen vielfältiger und durchlässiger werden, das Ressentiment zunehmend in Schwierigkeit gerät, rigide Grenzziehungen zu artikulieren. Natürlich wäre eine Abschaffung bestehender Geschlechterverhältnisse nicht in einem die Abschaffung antisemitischer Ressentiments, denn die schöpfen sich aus anderen Quellen, wie z. B. einer falsch verstandenen Kapitalismuskritik, aber die Artikulation solcher Ressentiments wäre in gewissem Maße blockiert und damit das Funktionieren des Antisemitismus in seiner Prozessualität in Frage gestellt.


Anmerkung

(1) Das ™ soll deutlich machen, dass wir an diesen Stellen in keiner Weise von real existierenden Jüdinnen und Juden sprechen, sondern von den (durchaus wirkmächtigen) Bildern, die der Antisemitismus produziert hat.

A.G. GENDER-KILLER ist der Versuch, seit 2001 mit Vorträgen, Filmvorführungen und Aktionen zu den Themenkomplexen Sexismus und Geschlechterkonstruktionen sowohl theoretisch als auch praktisch zu intervenieren. Im August 2005 erscheint der Sammelband "Antisemitismus und Geschlecht – Von "effeminierten Juden", "maskulinisierten Jüdinnen" und anderen Geschlechterbildern" im Unrast Verlag.

Ähnliche Artikel

Zwei Veranstaltungen als Kooperation zwischen Radio Helsinki und IG Kultur Steiermark finden am 21. Juni 2023 im Kulturfoyer Radio Helsinki statt. Um 14 Uhr starten wir mit dem Workshop „Kulturpolitik und ihre Akteur:innen im Reality Check“ mit Betina Aumair. Um 19 Uhr wird das Thema in der Podiumsdiskussion „Feministisch Gestalten. Zeit für neue Kulturpolitiken“ fortgesetzt. Leider ist der Workshop krankheitsbedingt verschoben.
Lehrgang Wie kommt Gender in die Kunst? Ein Lehrgang von „Visible. Frauen in Kunst, Kultur und Gesellschaft“ in Kooperation mit dem „Frauenreferat Kärnten“. Der von Dr.in Ute Liepold konzipierte Lehrgang soll das Bewusstsein für geschlechterspezifische Mechanismen schärfen und Grundbegriffe für Messbarkeit und Analyse der Geschlechtergerechtigkeit in der Kunst und Kultur vermitteln.
<bBei der Rechnitzer Gedenkstätte Kreuzstadl wurde ein Open-Air-Museum eröffnet, die Suche nach den Ermordeten hält an. </b</p Drei Gedenktage gebe es im Burgenland jedes Jahr zu begehen, sagt Iby Pál/Paul Iby, emeritierter Bischof von Eisenstadt: einen für die Opfer des Roma-„Anhaltelagers“ der Nazis in Lackenbach, einen für die in Oberwart 1995 ermordeten Roma und einen für die Opfer des Südostwallbaus und des Kreuzstadlmassakers in