Neoliberaler Standard. Zur Lateinamerika-Berichterstattung in der hiesigen Presse.

Dass die Neue Zürcher Zeitung oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu den publizistischen Flaggschiffen neoliberalen Denkens gehören, ist bekannt. Die Hegemonie äußert sich aber am besten dort, wo ihre Spuren weniger vermutet werden. So beispielsweise in der Lateinamerika-Berichterstattung der als linksliberal geltenden Tageszeitung Der Standard (Wien).

Die neoliberale Hegemonie zeichnet sich nicht nur durch die allgemeine Praxis bestimmter ökonomischer Maßnahmen aus (Deregulierung, Privatisierung, Sanierung des Haushaltsdefizits, Inflationsbekämpfung etc.). Sie schlägt sich auch in einer Art zu denken nieder. Von Hegemonie lässt sich sprechen, wenn es bestimmten gesellschaftlichen Gruppen oder Milieus gelungen ist, ihre Denkungsarten und Interessen als die allgemein gültigen durchzusetzen. Dass die Neue Zürcher Zeitung oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu den publizistischen Flaggschiffen neoliberalen Denkens gehören, ist bekannt. Die Hegemonie äußert sich aber am besten dort, wo ihre Spuren weniger vermutet werden. So beispielsweise in der Lateinamerika-Berichterstattung der als linksliberal geltenden Tageszeitung Der Standard (Wien).

Einstimmen in den neoliberalen Kanon

Schon im Februar 2005 durfte sich Mexikos Präsident Vicente Fox aus Anlass seines Österreich-Besuches im Standard-Interview unwidersprochen loben: „Ich war der Kopf einer Demokratisierungswelle, die mit den Wahlen vom Juli 2000 ihren Höhepunkt erreichte.“ (07. 02. 2005) Als im Juli 2000 die zuvor siebzig Jahre lang regierende Institutionell-revolutionäre Partei (PRI) abgelöst wurde, war das jedoch keinesfalls das alleinige Verdienst des rechten Ex-Managers Fox von der klerikal-konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN). Die Vorstellung, dass Demokratisierung von oben eingesetzt wird und Freiheit nichts als ein technisches Problem darstellt, gehört zum neoliberalen Kanon. Die sozialen Bewegungen, die die Durchsetzung demokratischer Standards eigentlich erkämpfen, kommen dann auch in der Berichterstattung (nicht nur) im Standard selten vor. Dass sie vor allem im Süden Mexikos auch unter Fox einem „Krieg niederer Intensität“ ausgesetzt sind, auch nicht. (Möglicherweise ist dem Standard hier noch eine ungewollte Subversion anzurechnen, denn wer sich als „Kopf einer Welle“ auszeichnen darf, dem wird vielleicht noch attestiert, nicht viel in ersterem zu haben). Ein paar Monate später findet wieder ein Interview mit einem lateinamerikanischen Präsidenten statt. Diesmal darf sich Kolumbiens Àlvaro Uribe als Mann des nationalen Ausgleichs präsentieren: „Kolumbiens Präsident sagt Guerilla, Paramilitärs und Drogenhandel mit militärischen Mitteln den Kampf an“, heißt es (24.06.2005). Seine Verbindungen zu Paramilitärs, der lebensbedrohlichen Situation linker Oppositioneller oder dem „Krieg gegen die Drogen“ sind kaum einen Kommentar wert. Kolumbien unter Uribe ist immerhin das Land, in dem die Situation der Menschenrechte laut Amnesty International (ai) „ausgesprochen besorgniserregend“ ist und in dem laut Kolumbien-Experte Raul Zelik ein regelrechter „Vernichtungsfeldzug gegen Gewerkschaften“ stattfindet. Und was den Ausgleich betrifft: Das Amnestie-Gesetz, das Uribe im Sommer 2005 durchs Parlament gepeitscht hat, dient in erster Linie der Straffreiheit rechter Paramilitärs und „missachtet das Recht der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung“ (ai). Dann gewinnt der indigene Ex-Gewerkschafter Evo Morales in Bolivien die Präsidentschaftswahlen und im Standard bricht – wie sonst überall im rechten Lager – Panik aus. „Links ist nicht gleich links in Lateinamerika“, versucht Alexandra Föderl-Schmid den LeserInnen zu erklären (20.12.2005) und was wir lernen sollen ist stattdessen, dass links gleich rechts ist: „Auffällige Parallelen“ gebe es nämlich zwischen besagtem Uribe und Venezuelas Präsident Hugo Chávez. Beide hätten schließlich die Verfassung ihres Landes zu Gunsten einer möglichen Wiederwahl ihrer Person geändert. Dass Uribe in paramilitärische Aktionen zum Sturz des linken Chávez verstrickt war, wird ebenso wenig erwähnt wie der eigentliche Inhalt der Verfassungsreform in Venezuela: Man mag von der Person Chávez halten, was man will, die in seiner Amtszeit verabschiedete Verfassung (1999) entwirft immerhin das Modell einer „partizipativen Demokratie“, das dem europäischen Pendant getrost als gutes Beispiel dienen könnte.

„Mentalitätsproblem“ Armut, Vergesellschaftung als „Demagogie“

Während Uribe sich keiner Kritik ausgesetzt sieht und als Macher durchgeht, der die Dinge anpackt, wird der Rechts-Links-Vergleich zu Ungunsten der Linken noch ausgebaut. Zunächst aber führt der bolivianische Sozialwissenschaftler Roberto Laserna in derselben Ausgabe (20.12.2005) aus, was Neoliberale schon immer über linke Regierungen gedacht haben: Ein „staatlich gelenktes Industrialisierungsmodell“, das die Regierung Morales einführen wolle, sei schon in der Vergangenheit zum Scheitern verurteilt gewesen. Zu dessen Gelingen mangele es in Bolivien an starken Institutionen, weltoffenen Bürgern (!) und Rechtsstaatlichkeit. Die Hauptfeinde einer Verbesserung der Lage macht Laserna nicht etwa in der ungleichen Verteilung von Ressourcen aus, sondern „tief verwurzelte Mentalitäten, Verhaltensweisen und Gewohnheiten“ behinderten den Fortschritt. Immerhin bekommt mit Christof Parnreiter ein anti-neoliberaler Lateinamerikanist die Gelegenheit, drei Tage später (23.12.2005) klar zu stellen, dass Armut kein „Mentalitätsproblem“ ist. Allerdings, das war dem Standard dann wohl doch zu einseitig, nicht ohne einen weiteren Kommentar, der Parnreiters Plädoyer gegen die „Blame-the-victim“-Strategie Lasernas wieder zurücknimmt: Von allen Kommentaren zum Thema sucht die Standard-Redaktion aus allen deutschen Zeitungen einen aus der Tageszeitung Die Welt aus – von jeher nicht gerade ein Organ für Gewerkschaftsinteressen, alte Sozialdemokratie oder gar emanzipatorische soziale Bewegungen. Unter der Überschrift „Linksruck in Lateinamerika: Populismus pur“ wird vor dem „explosiven Gemisch“ gewarnt, das aus Identitätsdiskurs und dem „Erwachen indigener Völker“ hervorgehe. Dies sei insbesondere dann gefährlich, wenn „ein Demagoge wie Evo Morales den Erdgashahn auf- oder zudrehen kann.“ Der Standard lässt ihm also freien Lauf, dem neoliberalen Abscheu gegen jede Form der Vergesellschaftung: Die Angst, dass Morales nun das in Bolivien veranstaltet, was Chávez mit Venezuelas Öl bereits vorgeführt hat: die Verstaatlichung der Ressourcen. Außerdem würde, so Welt-Kommentator Hans Christoph Buch, der lateinamerikanische Trend zu mehr Demokratie mit den neuen linken Präsidenten umgekehrt.

Die Mär vom „linken Totalitarismus“

Die zitierten Beispiele lassen also ganz polemikfrei folgende Zusammenfassung zu: Im Standard werden die rechten Präsidenten Lateinamerikas hofiert und die linken beschimpft. Es geht aber gar nicht hauptsächlich um das Ansehen staatlicher Würdenträger. Die aktuellen Entwicklungen in Bolivien oder Venezuela als „Populismus“ abzutun, ignoriert auch die sozialen Bewegungen, die sie tragen: Die unteren städtischen Schichten in Venezuela, die die „bolivarianische Revolution“ unterstützen, oder die bäuerlichen AktivistInnen in Bolivien, die erfolgreich die Privatisierung des Wassers verhindern konnten bis hin zur zapatistischen Bewegung in Mexiko, deren Auftreten der eigentliche Anfang vom Ende der PRI-Herrschaft war. Gerade in diesen Kämpfen um das Recht auf Rechte steckt ein gesamtgesellschaftliches Demokratisierungspotenzial, das nicht sehen kann und will, wer die ProtagonistInnen dieser Bewegungen als unmündige Deppen diffamiert. Die Wahl von Morales als Umkehr des Demokratisierungstrends zu interpretieren, verklärt darüber hinaus nicht nur die neoliberalen 1990er Jahre als stabil, geordnet und demokratisch. Es geht noch weiter: Denn „Demokratisierung“ wurde allgemein – als mehr oder weniger gelungen – konstatiert, nachdem auch die letzte Militärdiktatur aus den 1970er und 1980er Jahren niedergekämpft war. Eine „Umkehr“ zu diagnostizieren legt also nahe, wir hätten es bei Chávez und Morales mit Leuten zu tun, die ihre Macht auf eingeschworenen Zirkeln treuer Vasallen und systematischen Morden an politischen Gegnern gründeten, kurz: einem „linken Totalitarismus“.

Resümee

Das Lob der Technokraten, die totale Gegnerschaft gegenüber jeglicher Vergemeinschaftung und ein scheinheiliger Antitotalitarismus gehören zu den essentials der neoliberalen Ideologie. Es war eines der Geburtsmerkmale der neoliberalen Doktrin in den späten 1930er Jahren, linke und rechte politische Bewegungen unter dem Blickwinkel staatlicher Interventionen (in Wirtschaft und Gesellschaft) gleichzusetzen und die seeligmachenden Kräfte des Marktes als dritten, „antitotalitären“ Weg zu präsentieren. Dass die Marktprinzipien, wenn’s drauf ankommt, auch mit Hilfe von Militärdiktaturen wie in Chile und Argentinien der 1970er Jahre durchgesetzt werden müssen, dazu würde der Standard wohl nicht aufrufen. Das muss ihm auch niemand unterstellen. Denn auch der Neoliberalismus hat sich modernisiert und neue Bündnispartner und Trägerschichten außerhalb des Militärs gefunden. Ehemals linke Intellektuelle und Zeitungsredaktionen gehören dazu. Mit Blick auf die Mobilisierung gegen den Europa-Lateinamerika-Gipfel, der im Rahmen der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft im Mai 2006 in Wien stattfindet, ist also von der bürgerlichen Presse nichts zu erwarten, was den Kurs jener Regierungen kritisiert, die auch von Standard-AutorInnen einst als rechts und neoliberal eingestuft wurden. Das sollte zumindest im Hinterkopf behalten werden.

Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und lebt als freier Autor in Wien.

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