Avantgarde – die Katastrophe?

Ein Thema wie die Prekarisierung könnte entlang eines bestehenden ideologischen Geflechts aufgebaut werden, das die europäische Gesellschaft seit je wie ein Myzel durchwächst: dem Christentum. Nicht erschrecken, nicht lachen, sondern aufgreifen: Gerechtigkeit und Gleichheit sind (auch) christliche Grundwerte.

Am 4. November fand in Linz die zweite Tagung „(A)Typisch Frau“ statt, die den schönen Untertitel trug: Zwischen Avantgarde und Katastrophe. Wie die erste Tagung „(A)Typisch Frau. Zwischen allen Stühlen“ im November 2002 war sie von Fiftitu%, der oberösterreichische Vernetzungsstelle für Frauen in Kunst und Kultur (www.fiftitu.at), erdacht und organisiert worden, um Frauen einerseits konkrete Antworten auf konkrete Fragen zu geben und andererseits kulturpolitische Hintergründe schlaglichtartig zu erhellen und die Vernetzung von Frauen zu fördern.

Dein Projekt liebt Dich!

Eingeleitet wurde die Tagung mit einem Vortrag von Eva Blimlinger mit dem Titel „Geld oder Leben, Leben oder Kultur oder Dein Projekt liebt Dich“, mit dem sie auf eine Premiere auf der Probebühne des Grazer Schauspielhauses im September verwies.1 In einem kurzen historischen Abriss schilderte sie, dass „Projekte“ vor zwanzig Jahren etwas gänzlich anderes waren als heute: wenn auch nicht gut bezahlt, so waren sie doch von Bürokratie so gut wie unbelastet und gut dazu geeignet, kulturelles Kapital zu erwirtschaften, das irgendwann in gut bezahlte, stabile Positionen umgemünzt werden konnte. Die Gegenwart ist hingegen von gelenkter Projektinflation gekennzeichnet, die Projektwerber/innen ständig am Laufen hält wie in einem Hamsterrad. Projektwerber/innen – immer in prekären Arbeitsverhältnissen – werden zwischen überbordender Bürokratie (zwei Menschenmonate Arbeit für einen Projektantrag, der im unwahrscheinlichen Fall des Erfolgs ein bescheidenes, temporäres Einkommen verschafft) und der Notwendigkeit, kulturelles Kapital anzusammeln, eingezwängt, wobei kulturelles Kapital heute für eine berufliche Etablierung keineswegs ausreicht. Eva Blimlinger empfahl abschließend Allianzen zwischen Prekarisierten und „Privilegierten“ (solche mit festen Bezügen in einem gesicherten Arbeitsplatz) und den gemeinsamen Angriff auf die arbeitslosen Einkommen von Aktionär/innen. Der Nachmittag der Tagung war Workshops zu Themen wie Sozialversicherung, Arbeitnehmer/innenrechte und Informationsnetzwerke über Fördermöglichkeiten gewidmet. Die Teilnehmerinnen wurden gruppenweise durch das gesamte Programm geschleust, verschiedenfarbige Wattestäbchen wiesen den Weg.2 Das Thema Allianzenbildung schloss den Nachmittag ab (siehe dazu auch die KUPF-Zeitung vom Oktober 2005). Doch wohin führt diese Sehnsucht nach starken Verbindungen mit ihrer geradezu martialischen Terminologie?

Prekarisierung & Allianzenbildung

Zunächst darf den Künstler/innen, Kulturvermittler/innen und Kulturarbeiter/ innen der Vorwurf gemacht werden, dass sie sich teilweise mangelhaft organisieren und teilweise der Prekarisierung in einem Pathos der Selbstausbeutung Vorschub leisten. Sie haben es verabsäumt, Mindestgagen zu diskutieren und festzulegen, sie haben jedoch immerhin Teile der Gewerkschaft aktiviert und dazu gebracht, sich mit der Thematik der Prekarisierung auseinander zu setzen. Doch: „Die neue künstlerische und kulturelle Avantgarde macht vor, legitimiert und segnet kulturell ab, was gesellschaftlicher Standard sein soll. Deshalb können Künstler/innen bezichtigt werden, aktiv derzeitige gesellschaftliche Umwälzungen zu tragen und den Neoliberalismus voran zu treiben“ (Flexible@Art 2005). Tragfähige Allianzen, die sich gegen den Neoliberalismus zur Wehr setzen, müssen solche sein, die sich aus Interessenvertretungen, Netzwerken und gesellschaftlichen Gruppen und Verbänden zusammensetzen, die in unterschiedlichsten Feldern von Politik und Gesellschaft aktiv sind. Es genügt nicht, sich mit Gleichgesinnten und Freund/innen zu verbünden, im Gegenteil: Themenspezifische Vernetzung muss über die Kerngruppen hinausgehen, die Bewusstseinsbildung gerade dort stattfinden, wo das Thema unbeackert geblieben ist. Ein Thema wie die Prekarisierung könnte entlang eines bestehenden ideologischen Geflechts aufgebaut werden, das die europäische Gesellschaft seit je wie ein Myzel durchwächst: dem Christentum. Nicht erschrecken, nicht lachen, sondern aufgreifen: Gerechtigkeit und Gleichheit sind (auch) christliche Grundwerte. Kein ideologischer Kitt ist so haltbar und so weit verbreitet. Kamera läuft! Der Abend der Tagung wurde mit der Video-Arbeit „Kamera läuft“ der Gruppe kpD / kleines postfordistisches Drama zu Arbeits- und Lebensverhältnissen von Kulturproduzent/innen beschlossen. kpD schreibt: „Unsere Auseinandersetzung mit Prekarisierung geht davon aus, dass sich Arbeit und Leben gegenseitig durchdringen, was bedeutet, dass die dortigen Verhältnisse nicht mit einem herkömmlichen Begriff von Arbeit als Lohnarbeit zu fassen sind. Prekarisierung, so unsere Annahme, adressiert gerade die Verstrickungen, die in der begrifflichen Dichotomisierung zwischen Arbeit und Leben nicht artikulierbar sind.“ Damit wird darauf Bezug genommen, dass die Arbeit von Kulturproduzent/innen grundsätzlich nicht entfremdet sei, doch was, wenn diese Qualität im Dickicht der Bürokratisierung bewusst erstickt wird? Fiftitu% hat mit der Tagung den Spagat zwischen Denken, Bilden und Wirken ein zweites Mal versucht und gemeistert. Ich wünsche mir mehr davon.

1 _ Das Stück „Dein Projekt liebt Dich“ von Johannes Schrettle hatte am 24.9.2005 auf der Probebühne des Schauspielhauses in Graz Premiere.
2 _ Die Künstlerin Evelyn Kokes hatte zu Beginn der Tagung einigermaßen spontan – jedenfalls ohne Auftrag – eine Skulptur aus Wattestäbchen aufgebaut und enthüllt.

Literatur

Flexible@Art 2005: Prekarisierung(stendenzen) des Kunst- und Kulturfeldes am Beispiel der Kunstuniversität Linz und deren AbsolventInnen. Projekttext.

Juliane Alton ist Geschäftsführerin der IG Kultur Vorarlberg und lebt in Dornbirn.

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