Kulturarbeit neu verstehen. Von der Desillusionierung ins Handeln kommen.

Die Arbeitsbedingungen im Kulturbereich sind geprägt von wachsendem Projektdruck, schlechter Bezahlung, asymmetrischen Machtverhältnissen sowie einer Überproduktions- und Unterkonsumptionskrise. Die Realität steht damit konträr zur intrinsischen Motivation der Akteur*innen, zu einem besseren, freieren Miteinander beizutragen. Wie können wir aus der Handlungsunfähigkeit herauskommen? Der Philosoph Michael Hirsch setzt sich mit dem Unbehagen an den Produktionsverhältnissen in Kunst und Kultur auseinander und liefert einen hoffnungsvollen Blick auf vorherrschende Zustände. Wir haben mit ihm in unserem Webtalk „Wissen schafft Kultur“ gesprochen. Eine Nachbesprechung unseres moderierten Gesprächs. 

Kulturarbeit, Prekariat

Michael Hirsch setzt sich in seinem 2022 erschienenen Buch Kulturarbeit mit den Schwierigkeiten, Chancen, und Hoffnungen der Kulturarbeit, ihrer Organisation und ihren Rahmenbedingungen auseinander. Dabei legt er die Ansätze der kritischen Theorie an der Arbeit und der Arbeitsgesellschaft auf die Kulturarbeit um. Er beschreibt die praktischen Verhältnisse im Kulturbereich und deren Auswirkungen mit dem Ziel, gleichzeitig das Leiden unter den Bedingungen wie auch die Freude an der Arbeit zu vermitteln. Hirsch fordert fairere Arbeits- und Lebensbedingungen bei gleichbleibender (oder zunehmender) künstlerischer und kreativer Freiheit. Mit dieser Forderung richtet er sich auch an die Kulturtätigen selbst und ermutigt sie „beharrlich an der Möglichkeit, Vorstellbarkeit und Wünschbarkeit einer solchen, anderen Lebensweise zu arbeiten“.

Die Illusion der falschen Versprechen
Kulturarbeit wurde Hirsch zufolge in den letzten Jahr(zehnt)en immer stärker den Bedingungen herkömmlicher Lohnarbeit unterworfen. Das eigentliche Streben nach einer freien und selbstbestimmten Lebensweise wird durch die Belastungen der Doppel- und Mehrfachrollen in prekären Arbeitsverhältnissen zunehmend erschwert. 
Ausdruck der prekären Situation im Kunst- und Kulturbereich ist, dass es auch hier zu einer Überproduktions- und Unterkonsumptionskrise kommt.
Die Überproduktion, die der kapitalistischen Produktionsweise inhärent ist, drückt sich im kulturellen Bereich dadurch aus, dass die Kreativen rund um die Uhr neue Arbeiten, Stücke, Werke und Projekte produzieren. Und da alle bis über die Belastungsgrenze damit beschäftigt sind Neues zu entwickeln kommt es gleichzeitig zur Unterkonsumption. Den Kunst- und Kulturgestaltenden bleibt kaum Zeit und/oder Energie die Produktionen der Kolleg*innen zu konsumieren, geschweige denn diese zu diskutieren. Die Produktionsverhältnisse führen somit nicht nur zu einer Ressourcenverschwendung der kreativen Werke, oft bleibt auch eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Publikum und manchmal auch mit den Inhalten auf der Strecke.
Als bildliche Metapher wählt Hirsch das „Karottenprinzip“, das sprichwörtlich einem Esel eine Karotte vor die Nase hängt, um ihn anzutreiben. Im Kulturbetrieb symbolisiert die Karotte das falsche Versprechen eines besseren Lebens, in dem die kulturelle Tätigkeit zur Finanzierung des Lebensunterhaltung auslangt. Die „Esel des Kulturbetriebes“ sind die Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen, denen das Versprechen trotz aller Anstrengungen unter immer größer werdendem Produktivitäts- und Leistungsdruck zumeist unerfüllt bleibt. 

Desillusionierung als Selbstermächtigung
Mit den zwei zentralen Begriffen der „progressiven Desillusionierung“ und den „professionellen Amateuren“ erarbeitete Hirsch eine These, die zur Reflexion und Handlung aufruft: In diesem Kontext interpretiert er die Desillusionierung positiv. Mit „progressive Desillusionierung“ meint er eine Form der Aufklärung, die uns von schädlichen Illusionen befreit. Die „professionellen Amateure“ siedelt Hirsch zwischen den Professionellen und den Amateuren an. Sie stehen mit einem Bein im Betrieb und mit einem Bein draußen, beispielsweise durch einen Brotjob, und leben dadurch in einer stärkeren Distanz zum Betrieb und seinen Herrschaftsformen. Trotz der sich dadurch ergebenden prekären Lebensrealitäten sieht Hirsch darin einen Anknüpfungspunkt für eine konkrete Utopie, in der „durch das Entweichen aus den unfreien und ungleichen Bedingungen des Kulturbetriebes ein bewusster und nachhaltiger Umgang mit den eigenen sowie anderen psychischen und physischen Ressourcen“ möglich wird.

Wie aus der Handlungsunfähigkeit herauskommen?
Hirsch fordert die Kulturtätigen zum Innehalten und Reduzieren auf, zur Reflexion des eigenen Handelns und zur Aktion, bevor wir weiter der unerreichbaren „Karotte am Gestell des Betriebes“ hinterher hecheln.  Die Pandemie hätte zwar kurz zum „Innehalten“ geführt, doch zu keinem selbst gewählten. Jetzt bräuchte es eine erneute, selbstständige Pause, „mit Elementen eines Streiks, einer aktiven Verweigerung“. Hier findet sich eine spannende Parallele zu der Slow Down Kampagne der IG Kultur, in der ebenfalls eine nachhaltige und ressourcenschonende Kulturarbeit gefordert wurde. Diese Idee gilt es wieder aufzugreifen und mit den aktuellen Forderungen nach fairer Bezahlung im Sinne von FAIR PAY zu verknüpfen.
Hirsch formuliert die Notwendigkeit, den Widerspruch in der Kulturarbeit zu erkennen, der sich darin zeigt, dass die Kunst- und Kulturakteur*innen über Lohnarbeit hinaus wollen, aber dennoch an dessen Raster gemessen werden bzw. ihr gesellschaftlicher Wert daran bestimmt wird. Studien belegen, dass nur ein kleiner Teil der Künstler*innen vom Kunstschaffen leben kann. Ausgehend von der Masse an Kulturtätigen, für die sich das Erfolgsversprechen nicht bewahrheitet, braucht es subtilere Faktoren der Lebenszufriedenheit, der Qualität der Arbeit und einen anderen Maßstab des Erfolgs als die bürgerliche Vorstellung einer beruflichen Karriere.
Gleichzeitig müssen Kulturtreibende dennoch von ihrer Tätigkeit leben und haben Angst vor der Missachtung durch andere, wenn sie doch gesellschaftlich am Raster gemessen werden, das sie selbst ablehnen. Diesen Widerspruch können wir nicht auflösen, sondern müssen ihn austragen, so Hirsch. Diese Herausforderung, einerseits für die Kunst zu leben, andererseits von der Kunst zu leben, müssen wir uns vergegenwärtigen. 
Es braucht daher auch eine Umverteilung von Gütern, wodurch Wertschätzung anders verteilt wird, so Hirsch. Er fordert bessere Arbeitsbedingungen sowie gerechtere Löhne, worin eine Gemeinsamkeit mit der Fair Pay Kampagne der IG Kultur liegt.

Politisierung der Produktionsbedingungen
In Anlehnung an den Feminismus rät Hirsch das Private politisch zu machen. Künstlerinnen und Kulturarbeiter*innen sollen die eigene Wahrnehmung vom Privatsubjekt in eine allgemein politische Figur umwandeln und entsprechend handeln. Damit zusammen hängt auch die Notwendigkeit, Tabus zu brechen und die Scham abzulegen, beispielsweise, wenn es darum geht über Geld zu sprechen. 
Ein erster Schritt ist alle Gespräche als Teil der Arbeit zu verstehen und darin bessere Bedingungen einzufordern. Bei Verhandlungen zur Entlohnung geht es um nichts weniger als die Frage der Wertschätzung. Plädiert das Individuum für einen anderen Standard der Honorierung, tut die Person dies auch stellvertretend für das Kollektiv der Kunst- und Kulturtätigen. Hirsch sieht im steten Einfordern einer gerechten Bezahlung eine Möglichkeit dem Zwang zur Überproduktion zu widerstehen. Aufgrund der Doppelexistenz müssen wir darauf insistieren, angemessen bezahlt zu werden. Um nicht in die Irre geführt und gegeneinander ausgespielt zu werden, braucht es daher solidarische, kollektive Praktiken und ein höheres Maß an Organisierung und Kommunikation innerhalb der Szene. Die Forderungen nach Fair Pay dürfen nicht dazu führen, dass die Szene unterteilt und gegeneinander ausgespielt wird.

Solidarisierung
Hirsch identifiziert die knappen Güter „Zeit“ und „soziale Sicherheit“ als identische Probleme auch in anderen Sektoren und schlägt vor, „materielle Rechte für den Kulturbereich“ zusammen mit den Interessen anderer Arbeiter*innen zu vertreten. Er spricht nicht nur von den in Kunst und Kultur Engagierten, sondern von den „Denker*innen“, von all jenen, die in Wissenschaft und Journalismus tätig sind und geistige Arbeit verrichten. Darüber hinaus empfiehlt er ein Bündnis mit dem Sozial- und Pflegebereich, um für gemeinsame Forderungen zur Verbesserung der Entlohnungsbedingungen und Lebensqualität der Einzelnen, etwa durch soziale Rechte wie Mindestlohn und Mindestrenten, einzutreten. Neben der politischen Organisation durch starke Interessensvertretung appelliert er für intensive politische Aufklärung, wie sie beispielsweise die aktuelle Plakatkampagne der IG Kultur zum Ziel hat.

Utopische Umdeutung
Die vorherrschende Mehrfachbeschäftigung ist aktuell meist nicht freiwillig gewählt, sondern ökonomisch erzwungen. Nach Hirsch kann dieser Umstand jedoch auch positiv gelesen werden, denn Mehrfachbeschäftigungen können ihm zufolge auch eine freiere Art der Beschäftigung verkörpern. Beispielsweise kann die Abwechslung der Tätigkeiten Kreativität freisetzen. Zurzeit stehen die Meisten jedoch durch den Strukturwiderspruch des Doppellebens unter einer Doppel- oder Mehrfachbelastung. Hirsch formuliert eine radikale Kritik an der „Fantasie von Vollzeitbeschäftigung und Hauptberuflichkeit“ sowie einen Appell zur Anerkennung der bereits massenhaft existierenden „pluralen Identitäten“. 
Die politische Strategie, um uns der Utopie anzunähern, wäre langfristig eine Arbeitszeitverkürzung. Auch mittelfristige Übergangsmodelle wie Job Sharing können die Umdeutung der Lebensmodelle in intellektuelle, künstlerische, geistige Arbeit unterstützen. Als Beispiel führt Hirsch an, alle ausgeschriebenen (Leitungs-)Positionen in öffentlichen Einrichtungen nur noch in Teilzeitstellen auszuschreiben, um den Halbtagsmodus zu normalisieren. Dies könnte auch der Überarbeitungsspirale entgegenwirken, welche aus der Tatsache entsteht, dass derzeit Vollzeitstellen aufgrund der Unterfinanzierung einfach nur als Teilzeit ausgeschrieben werden. 
Auch faire Förderpolitik und faire Fördersystematiken können einen Beitrag leisten, etwa wirken Wiederaufnahmeförderungen der Überproduktionskrise entgegen und Projektentwicklungsstipendien helfen, Tätigkeiten zu finanzieren, die üblicherweise unbezahlt bleiben.



Michael Hirsch (* 1966 in Karlsruhe) ist ein deutscher Philosoph, Politologe, Kunsttheoretiker und Autor. Er ist Privatdozent für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Siegen. Letzte Veröffentlichungen: Kulturarbeit. Progressive Desillusionierung und professionelle Amateure (2022), Utopien des Überflusses. Über künstlerische Arbeit und Bildung in den Zeiten der Krise (2020), Richtig falsch. Es gibt ein richtiges Leben im falschen (2019), Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit (2016), Logik der Unterscheidung. Zehn Thesen zu Kunst und Politik (2015), Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen (2013). 


Leseempfehlung: Michael Hirsch (2022): Kulturarbeit. Progressive Desillusionierung und professionelle Amateure. Hamburg: Textem Verlag.

Buchbesprechung als Radiosendung (IG KiKK Radiosendung „KiKK OFF – za kulturo gestaltet von Daniel Gönitzer)

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