Zirkus, ein wandlungsfähiges Genre
Ein geschichtlicher Rückblick aus kunstwissenschaftlicher Perspektive. Der Zirkus hat sich in seiner etwa 250jährigen Geschichte in Europa durchgängig als sehr wandlungsfähiges Genre erwiesen. Im deutschsprachigen Raum bis zum heutigen Tag fast unbemerkt ist die Entwicklung des Zirkus mit der Etablierung dieses Klischees jedoch längst nicht abgeschlossen.
Die Diversifizierung einer darstellenden Kunst
Der Zirkus hat sich in seiner etwa 250jährigen Geschichte in Europa durchgängig als sehr wandlungsfähiges Genre erwiesen: Die ursprünglich in der 2. Hälfte des 18. Jh. als Kunstreitshow entstandene populäre Unterhaltungsform integriert zunächst komische Charaktere und AkrobatInnen. Später erweitert sie ihr Programm mit neuen artistischen Disziplinen, wie dem Trapez, oder bietet Tierdressuren infolge des Niedergangs der fahrenden Ménagerien ein neues Zuhause. Diese kurze Aufzählung beinhaltet nur einige wenige Etappen auf dem Weg zu einem ästhetischen Stereotyp des Zirkus, das sich in den Köpfen der Mehrheitsgesellschaft spätestens in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg festgesetzt hat. Im deutschsprachigen Raum bis zum heutigen Tag fast unbemerkt ist die Entwicklung des Zirkus mit der Etablierung dieses Klischees jedoch längst nicht abgeschlossen. Dies zeigt die Innovationsfreude deutlich, die, ausgehend von Frankreich, seit mehr als 30 Jahren die Zirkuswelt von Innen wie von Außen auf unterschiedlichste Weise weiter revolutioniert hat. Neu ist vor allem der Anspruch, den Zirkus einerseits als kulturelles Erbe anzuerkennen, andererseits aber in seinen künstlerischen Ausprägungen, die gerade durch die Entwicklung seit den 1970er Jahren vorangetrieben werden, in den Kanon der „Hohen Künste“ aufzunehmen.
Die Entstehung des „Nouveau Cirque“ (des Neuen Zirkus) in Frankreich
Neben Reformbestrebungen innerhalb der etablierten Unternehmen und einer Öffnung der Ausbildung durch die Gründung von Zirkusschulen, geht der Impuls zu dieser Revolution in den 1970er Jahren in doppeltem Sinn von „AußenseiterInnen“ aus: Die BegründerInnen des Nouveau Cirque stehen außerhalb der familiären „Zirkus-Tradition“ und sehen sich zudem als RebellInnen gegen die herrschende gesellschaftliche Hierarchie. Sie greifen das soziale Ideal, d.h. die Elemente, die auch im heutigen Diskurs als Grundlage für die Attraktivität des Zirkus weiterleben, auf: Den Zusammenhalt der Gruppe (Familie), die Marginalität gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, Zirkus als Raum für Andersartigkeit, Mobilität, vielleicht sogar Freiheit. Gleichzeitig revolutionieren sie innerhalb des folgenden Jahrzehnts jedoch grundlegend die stereotype Ästhetik und die formale Struktur, indem sie ausnahmslos alle vermeintlich fundamentalen Codes des „traditionellen“ Zirkus in Frage stellen. Dies geschieht sowohl in Bezug auf die Ästhetik, z.B. die Farben Rot und Gold, den babylonischen Aufbau der Nummern, d.h. die Steigerung vom Einfachen zum immer Schwierigeren, das Konzept der Vorstellungen als Nummernprogramm, die Zirkusmusik, das Manegenrund, das Zirkuszelt, die Zirkusfiguren: Clown, ZirkusdirektorIn, TrapezartistIn, u.v.m., als auch unter gesellschaftlicher Perspektive, z.B. die patriarchalen Organisationsformen der „Zirkusdynastien“ oder die Haltung und Dressur von wilden Tieren.
Die Einführung von, dem Tanz oder Theater entlehnten, Dramaturgien, und die Abkehr vom klassischen Nummernprogramm, haben den Zirkus transformiert. Diese Veränderungen stehen zweifellos im Mittelpunkt der Erweiterung seines künstlerischen Potenzials.
Zirkus wird bedeutsam
Der Nouveau Cirque produziert häufig abendfüllende Programme, in denen die Form der Zirkusnummer nicht mehr im Vordergrund steht oder gänzlich verschwindet. Er entwickelt vielmehr ein technisches Vokabular und macht sich auf die Suche nach logischen Zusammenhängen für die so entstandenen bedeutungsvollen Gesten, die ein Zirkusstück zu einer sinnhaften Einheit machen, z.B. durch verbindende Elemente wie stilistische Einheit, Choreographie, gemeinsame Gestik, Handlungs- oder Psycho-Logik o.ä.. Bedeutung, das heißt die Produktion von Sinn, der den selbst-referenziellen Rahmen des „traditionellen“ Zirkus sprengt, könnte sicherlich als Schlüsselbegriff für eine Unterscheidung zwischen „traditionellem“ Zirkus und Nouveau Cirque dienen: Eine traditionelle Zirkusvorstellung ist eine Präsentation (Darbietung) codierter Figuren, die sich bis heute weitgehend dem Weltbild der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seiner Utopie von der Überlegenheit des Menschen über die Natur, dem Fortschrittsglauben und den damaligen Geschlechterbildern zuordnen lassen. Ihres historischen Kontextes beraubt erfüllt diese Art der Darbietung heute oft nur noch einen Selbstzweck. Sie funktioniert als geschlossenes System und lässt kaum Assoziationen mit der sie umgebenden Alltagsrealität mehr zu. Nouveau Cirque hingegen produziert Narrative und Repräsentationen (Abbildungen) und nimmt damit zu seiner Umwelt Stellung. Seine KünstlerInnen treten in eine gänzlich andere Beziehung zu ihrem Publikum, keiner „symbolischen“, in der Figur und DarstellerIn ununterscheidbar sind, in der der/die DarstellerIn die Figur ist und ein Stereotyp erfüllt, sondern in einer „reflexiven“, d.h. die Unterscheidung zwischen Figur und DarstellerIn bleibt erhalten. Das Publikum wird aufgefordert, sich mit der in der Inszenierung durch die eingesetzten theatralen Elemente wie Bühnenbild, Figuren, Psycho-Logik usw. produzierten jeweiligen Bedeutung auseinanderzusetzen. Damit entsteht ein Raum, in dem das Publikum zu Assoziationen mit der eigenen Lebenswelt angeregt wird.
Der Zeitgenössische Zirkus hat sich mit einer Zeitverzögerung von etwa 30 Jahren analog zu Entwicklungen in der modernen Darstellenden Kunst vom Primat der Handlungs- oder Psycho-Logik befreit und konzentriert sich auf das Performative von Aufführungen.
Emanzipation der Zirkuskünste
Die Abkehr von den engen zeitlichen Grenzen der Zirkusnummer führt außerdem zu einer Emanzipation der verschiedenen Zirkuskünste gegenüber dem üblichen Mischprogramm im Zirkus. Nicht mehr an das klassische achtminütige Format gebunden, können sie ihr Potenzial, ihre eigene Sprache frei entwickeln. Formen, die für die Zeit vor den 1970er Jahren undenkbar waren, sind heute keine Seltenheit mehr: Abendfüllende Programme in denen teilweise nur eine einzige Disziplin auf die Bühne kommt – Jonglage (Gandini Juggling), Seiltanz (Les Colporteurs), Partnerakrobatik (Compagnie XY), Trapez (Les Arts Sauts), um nur einige Beispiele zu nennen.
Doch die Entwicklung des Zirkus bleibt auch hier nicht stehen.
Die späten 1990er Jahre: Vom Nouveau Cirque zum Zeitgenössischen Zirkus
Selbst der Nouveau Cirque gilt inzwischen aus kunstwissenschaftlicher Perspektive als überholte Kategorie und sieht sich mit noch radikaleren Ansätzen konfrontiert, die in der Analyse analog zur Terminologie im Tanz mit dem Begriff „Zeitgenössischer Zirkus“ belegt werden. Diese neueste Kategorie von Zirkus hat die Zirkuslandschaft ausgehend von Frankreich seit den späten 1990er Jahren erneut vervielfältigt und beeinflusst, vor allem durch die internationale Vernetzung der Zirkushochschulen, auch die internationale Zirkusszene. Sie produziert ihre Ästhetik nicht mehr in der Abgrenzung von oder Umgestaltung der „tradierten“ Codes, sondern nutzt und erweitert unbefangen das kreative Potenzial der Zirkustechniken. Der Zeitgenössische Zirkus hat sich mit einer Zeitverzögerung von etwa 30 Jahren analog zu Entwicklungen in der modernen Darstellenden Kunst vom Primat der Handlungs- oder Psycho-Logik befreit und konzentriert sich auf das Performative von Aufführungen. Zur Verdeutlichung: Vor der sog. „Performativen Wende“ in den 1960er Jahren galt, vereinfacht dargestellt, folgendes Schema für Vorstellungen theatraler Art: Ein/e AutorIn produziert Sinn, dieser wird von den DarstellerInnen verkörpert und vom Publikum konsumiert. Seither versuchen innovative Formen, sich von diesem letztlich illusorischen „Text-Diktat“ zu befreien und stellen den Ereignischarakter sowie die Körperlichkeit einer Aufführung in den Vordergrund. Wiederum vereinfacht dargestellt, wird der/die ZuschauerIn mit theatralen Elementen (SchauspielerIn, Requisiten, Musik, Licht usw.), sog. „emergenten Phänomenen“, konfrontiert, ohne dass eine vorgegebene Handlungs- oder Psycho-Logik ihr „Auftauchen“ erklären würde. Die Produktion von Bedeutung, d.h. die Konstruktion von Sinnzusammenhängen, liegt damit allein im Auge des Betrachters, die dieser durch seine ureigenen Assoziationen selbst leisten muss bzw. kann.
Das Neue am Zeitgenössischen Zirkus
Welche fundamentalen Weiterentwicklungen bietet der Zeitgenössische Zirkus gegenüber seinen Vorgängern?
1) Narrative Dramaturgien verlieren gegenüber der Aneinanderreihung der oben genannten emergenten Phänomene an Bedeutung. Damit findet der Zirkus über seine spezifische Körperlichkeit in den verschiedenen Zirkuskünsten, und speziell über die darin provozierte Konfrontation des menschlichen Körpers mit den ihm eigenen physischen Grenzen und Risiken, wie u.a. Balance, Geschwindigkeit und Höhe (die ihn von allen anderen performativen Künsten unterscheidet), schlussendlich sein volles künstlerisches Potenzial wieder. Befreit von der dem Stereotyp des „traditionellen“ Zirkus innewohnenden „Bedeutungslosigkeit“ und dem im Nouveau Cirque angelegten „Text-Diktat“ erkennt der Zeitgenössische Zirkus an, dass Sinn erst im Verhältnis zwischen AkteurIn und BetrachterIn entsteht und damit letztlich unverfügbar bleibt. Gerade die körperliche Ebene, sowohl in der Darstellung wie auch in der Wahrnehmung, tritt im Zirkus in eine gleichberechtigte Stellung neben die intellektuellen Komponenten einer Aufführung. So rechtfertigen gelungene zeitgenössische Zirkusinszenierungen beeindruckend den Anspruch dieser vielfältigen Kunstform auf Anerkennung im Kanon der darstellenden Künste.
2) Statt auf die Attraktivität von Marginalität zu setzen, versteht sich der Zeitgenössische Zirkus eher als „etablierte“ Kunstform.
Zwischen den MacherInnen des Nouveau Cirque und denen des Zeitgenössischen Zirkus hat gewissermaßen ein Generationenwechsel stattgefunden. Die AkteurInnen des Nouveau Cirque entstammen mehrheitlich der Generation, die im Zuge der 68er-Revolutionen versuchte, die Gesellschaft und mit ihr die sie konstituierenden Institutionen offensiv zu verändern. Sie hatten den strategischen Vorteil der Marginalität von Zirkus für sich erkannt, die es ihnen erlaubte, eine radikale Kritik an den bestehenden Verhältnissen quasi von den Rändern ins Zentrum der Gesellschaft zu tragen. Im Zuge dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzungen veränderte sich die Ästhetik des Zirkus und vervielfältigte sich.
Die AkteurInnen des Zeitgenössischen Zirkus hingegen sind in anderen sozialen Kontexten aufgewachsen. Viele von ihnen haben die inzwischen etablierten Zirkusakademien besucht und ihr Bemühen, sich von der Rest-Gesellschaft zu differenzieren, gründet sich mehr auf dem Anspruch, künstlerisch tätig sein zu wollen, als auf politisch-ideologischen Erwägungen. Sie operieren daher eher aus dem gesellschaftlichen Zentrum heraus als von den Rändern her, selbst wenn diese Behauptung für die Wahrnehmung von Zirkus im deutschsprachigen Raum nicht unmittelbar schlüssig erscheinen mag. Denn die Wahrnehmung des Zirkus als marginal spielt weiterhin eine große Rolle für die Position des Zirkus in der Gesellschaft. Gerade die Institutionalisierung des Zirkus durch spezielle staatliche Förderprogramme und Ausbildungsstätten im europäischen Ausland beeinflusst dagegen deutlich das Selbstverständnis der zeitgenössischen ZirkusartistInnen, die innerhalb dieser Institutionen sozialisiert werden: Marginalität gilt nicht mehr als Selbstzweck des Zirkus, sondern wird eher als Hindernis für eine umfassende Anerkennung ihrer künstlerischen Tätigkeit erfahren. Ihr gesellschaftskritischer Ansatz verortet sich häufig auf sehr viel intimerer Ebene, setzt sich mit individuellen Schicksalen auseinander und nimmt seltener die Gesamtstruktur der Gesellschaft ins Visier.
Trotz dieser chronologischen Darstellung soll keineswegs der Eindruck entstehen, die jeweils neuere Form hätte die historisch ältere abgelöst oder gar ersetzt. Im Gegenteil: Alle angeführten Formen des Zirkus koexistieren und entwickeln sich in ihrer jeweiligen Ausprägung. Sie finden weiterhin ihr jeweiliges Publikum und besetzen damit unterschiedliche Positionen innerhalb unseres Gesellschaftssystems. Gerade diese Vielfalt sollte als Chance wahrgenommen werden, da in ihr die Anpassungsfähigkeit des Genres an die komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen begründet liegt, mit denen sich der Zirkus auch in Zukunft auseinandersetzen muss.
Dieser Artikel erschien erstmals in leicht veränderter Form in der Publikation „Zirkus Heute. Neuer Zirkus in Deutschland und seine Companien“, herausgegeben durch die „Initiative Neuer Zirkus“ im November 2014.
Autor:
Andreas Bartl ist nach seiner Ausbildung an der „École Supérieure des Arts du Cirque“ in Brüssel aktuell als freischaffender Zirkusartist unter dem Label „Circus unARTiq“ tätig. Seit einem Zweitstudium der Ethnologie und Erziehungswissenschaften an der Universität zu Köln beschäftigt er sich immer wieder auch mit theoretischen Fragen zum Zirkus als Kunstform.