BruXXel, Dezember 01
Der EU-Ratsgipfel auf dem Brüsseler Schloss Laeken ist ruhig verlaufen, der Gegengipfel wollte nicht so recht stattfinden - so ließe sich in Kürze zusammenfassen, was auf beiden Seiten nach monatelangen Vorbereitungen mit Spannung erwartet worden war.
Der EU-Ratsgipfel auf dem Brüsseler Schloss Laeken ist ruhig verlaufen, der Gegengipfel wollte nicht so recht stattfinden - so ließe sich in Kürze zusammenfassen, was auf beiden Seiten nach monatelangen Vorbereitungen mit Spannung erwartet worden war. Während am Abend des 15. Dezember, des letzten Tages des EU-Gipfels, in einem Brüsseler Veranstaltungszentrum noch Hunderte DemonstrationsteilnehmerInnen in Partystimmung waren und die konzertierenden Bands die letzten Mobilisierungsparolen ins Publikum riefen, machte sich bei einer Reihe von OrganisatorInnen und BeobachterInnen bereits Katerstimmung breit.
Zwar hatten - entgegen den Befürchtungen - an den drei Tagen insgesamt gut 100.000 Menschen an den Protesten teilgenommen, doch blieben die Ergebnisse ernüchternd: Die Brüsseler Polizei hatte, zum Teil die Aufsplitterung der Szene in eine Vielzahl von mittleren bis kleineren Demonstrationen ausnutzend, einige der wichtigsten Forderungen der Organisationsplattform "d14" (die Kundgebungen sollten am Ort des EU-Gipfels wahrnehmbar sein, auf den Einsatz vermummter PolizistInnen möge verzichtet werden, keine Verhaftungen im Vorfeld) kalt lächelnd unerfüllt gelassen; an Nebenschauplätzen kam es zu einer Reihe von Verhaftungen und Landesverweisen, die nicht so sehr jene wenigen betrafen, die mit Pflastersteinen den Kapitalismus in Gestalt von Bankfenstern zu zerstören versuchten, sondern illegale Plakatierer, Leute, die sich allein dadurch auffällig gemacht hatten, dass sie schon an früheren globalisierungskritischen Demonstrationen teilgenommen hatten, oder einfach nur solche, die sich zu einer Kundgebung gegen die Verhaftungen zusammenfanden; als zentraler Versammlungsort des Gegengipfels schließlich war ein aufgelassener Zollgebäudekomplex ausgehandelt worden, der, der früheren Funktion entsprechend, bestens zu kontrollieren war und in das ein paar Tausend Demonstrationswillige kurzerhand eingeschlossen wurden, nachdem es zum Ansatz einer Auseinandersetzung sowie zum einzigen Einsatz von Wasserwerfern gekommen war.
Die Katerstimmung aber hatte noch andere, schwerer wiegende Gründe: Irgendwie kam das Gefühl auf, dass die politische Dimension der Demonstrationen so weit in den Hintergrund gerückt war, dass sie nicht nur für die ohnehin nicht sonderlich daran interessierten Regierungschefs in Laeken unhörbar blieb, sondern auch für eine Vielzahl von KundgebungsteilnehmerInnen kaum auszumachen war. War bei der Gewerkschaftskundgebung am 13. Dezember (80.000 TeilnehmerInnen) - zumal angesichts des Konkurses der belgischen Fluglinie Sabena - noch so etwas wie eine gemeinsame Stoßrichtung erkennbar, fragte sich bei der internationalen "d14"-Demonstration am 14. (25.000 TeilnehmerInnen) bereits, welche politischen Perspektiven sich eigentlich aus den vielfach unvereinbar scheinenden Anliegen der präsenten Gruppierungen ergeben, so waren bei der "Street Party" am 15. (4000 TeilnehmerInnen) nahezu alle Anzeichen eines politischen Diskurses verschwunden: Als würde das eine das andere ausschließen, waren die Statements und Parolen der allgemeinen Partystimmung einerseits (die dann geradewegs in den Kater führte) und dem Kitzel der möglichen Konfrontation mit der Polizei andererseits gewichen; das "Reclaim the streets"-Konzept ging - an die Wiener Donnerstagsdemonstrationen in ihrer Spätphase erinnernd - schon deswegen nicht auf, weil der Umzug zu einer Art Hindernislauf auf einem polizeilich reglementierten Parcours geworden war.
Die seltsame Leerstelle des Politischen weist auf das zentrale Problem der Bewegung als ganzer hin: Ihre heterogene Zusammensetzung und der daraus resultierende Mangel an einheitlichem Programm wie zentraler Führung gilt als entscheidende Innovation und politische Stärke der Bewegung. Sie hat auch für einen Überraschungseffekt bei den Gegnern gesorgt, der den Protesten spektakuläre Erfolge im physischen und diskursiven öffentlichen Raum ermöglicht hat. Die Heterogenität - will sie sich nicht mit der naiven Vorstellung begnügen, allein schon die Addierung der beteiligten (und mitunter durchaus widersprüchlichen) AkteurInnen verleihe an sich schon politische Bedeutung, ist freilich nicht nur eine Stärke, sondern auch Herausforderung.
Die von Negri/Hardt beschriebene "multitude" braucht Willen, Fähigkeit und Orte zur öffentlichen Auseinandersetzung als zentraler Bedingung ihrer inneren demokratischen Entwicklung und politischen Artikulationsfähigkeit. Diesbezügliche Versuche haben zwar stattgefunden, insbesondere rund um Genua, aber bislang wenig Nachhaltigkeit gezeigt. Der Arbeit daran wird auch oft und gerne ausgewichen, indem von konsensualen Feindbildern und von der Annahme ausgegangen wird, dass in zentralen Fragen alle ohnehin irgendwie dasselbe wollen. Das führt mitunter, vor allem bei manchen der routinierten Summit-Hopper, zur Ausbildung eines weitestgehend selbstreferentiellen Narrativs über die gesammelten "Summit"- und "Gegen-Summit"-Erfahrungen, wie bei einigen Treffen und Diskussionsveranstaltungen am Rande des Brüsseler Gipfels deutlich wurde. Das bunte Sammelsurium von AktivistInnen mit seinen Anteilen von VerschwörungstheoretikerInnen, freischwebenden KarnevalistInnen und Arbeiterklasse-FetischistInnen, die allzu oft in monologischen Zugängen zum politischen Diskurs gefangen sind, wollte bei den seltenen Gelegenheiten des gegenseitigen Austausches auf Podien und Round Tables meist wenig aufeinander eingehen - wo nicht umgekehrt aufeinander einbrüllen. Dies wurde bislang noch verdeckt von dem anhaltenden Aufschwung, in dem sich die Gipfel-Protest-Bewegung bis Genua befand, mit all den Gratifikationen der öffentlichen Sichtbarkeit. Doch diese Sichtbarkeit ist nicht zuletzt von Medien abhängig, und spätestens wenn die Demonstrationsreportagen zur medialen Begleitroutine der Gipfelberichterstattungen geworden sind, ist die Krise absehbar.
Das österreichische Beispiel lehrt zudem, wie ungerührt Regierungen Protestbewegungen auszusitzen imstande sind. In Brüssel wurden die ersten Krisenanzeichen sichtbar, denn es wurde deutlich, dass jeder Überraschungseffekt verloren gegangen ist, wohl auch, weil die kooperierenden Polizei- und Verwaltungsapparate die verschiedenen Gruppen mittlerweile gut genug kennen, um sie perfekt zu kontrollieren. Die Folge davon war auch ein vergleichsweise geringes internationales Medienecho. Als entscheidende Frage bleibt aber jene nach dem politischen Charakter dieser Bewegung, das heißt nach ihren zentralen politischen Inhalten, nach den Orten, an denen diese verhandelt werden, sowie nach den Formen ihrer politischen Aktion und Organisation. Dafür bot Brüssel allerdings jenseits der Massendemos durchaus Vorbildliches.
Ausgerechnet jene Organisationsplattform, deren "Street Party" am letzten Tag des EU-Gipfels als weitgehend entpolitisierter Umzug erscheinen konnte, sorgte von Oktober bis Dezember für ein bemerkenswertes Beispiel, wie sich direct action, offene Organisationsformen und profunde politische Analysen und Diskussionen verbinden lassen. Das neu gegründete Kollektiv "BruXXel" - zusammengesetzt aus dem alternativen Kinozentrum "Cinéma Nova", der Veranstaltungsinitiative "City Mine(d)" und dem "Collectif Sans Nom", das Ende der Neunziger nach dem Vorbild der italienischen centri sociali ein autonomes soziales Zentrum eingerichtet hatte - besetzte am 13. Oktober ein leer stehendes Gebäude der "Gare de Quartier Leopold", des ältesten Bahnhofs von Brüssel, um binnen weniger Tage nicht nur Barbetrieb und einen (seinem Pendant im europäischen Parlament entgegengesetzten) alternativen EU-Infopoint einzurichten, sondern vor allem ein erstaunlich umfangreiches und dichtes Veranstaltungsprogramm zu beginnen.
Pointe der Ortswahl: Der Bahnhof befindet sich unmittelbar vor dem Gebäudekomplex des EU-Parlaments und soll nach vorliegenden Plänen nur noch als integrierte Fassade eines weiteren riesenhaften Parlamentsgebäudes erhalten bleiben. Parlament wie Bahnhof liegen zudem an einer jener die Stadt durchziehenden Grenzen, an denen das von "immigrés de luxe" (so eine in Brüssel gebräuchliche Bezeichnung) bevölkerte EU-Viertel schroff auf historische Stadtteile und deren heterogen zusammengesetzte EinwohnerInnenschaft stößt.
Dem symbolisch präzise gewählten Ort entsprach der ebenso präzise gesetzte zeitliche Rahmen der Besetzung, die - gleichsam als Begleitmaßnahme zur belgischen EU-Präsidentschaft - von Anfang an als temporäres Projekt konzipiert war und kurz nach den Demonstrationen zu Ende gegangen ist. Zentrales Anliegen von BruXXel war es, ganz im Sinne dieser doppelten Präzision, globale mit lokalen Fragen programmatisch zu verbinden, die nationalen, supra- und transnationalen Absteckungen des politischen Diskurses nicht nur auf eine global-globalisierungskritische Perspektive hin zu überschreiten, sondern sie auch durch die entschiedene Zuwendung zur Mikroebene lokaler Effekte und Auseinandersetzungen zu unterlaufen. Einen Schwerpunkt der Intervention, die sich auch im Veranstaltungsprogramm widerspiegelte, bildete der Zusammenhang zwischen Wachstum der - andernorts als unangreifbar abstrakt erfahrenen - EU-Institutionen und der Lebenssituation in Brüssel (soziale Spaltung, Gentrifizierung etc.).
Diese Setzung allein trug - im Zusammenwirken mit bestehenden Netzwerken - wesentlich zum Gelingen des Projekts bei: Was als eher spontane Aktion begonnen hatte, erregte innerhalb kürzester Zeit das Interesse lokaler Medien (so wurde z. B. im Brüsseler Lokal-TV ein halbstündiges Studiogespräch mit einem der BahnhofsbesetzerInnen ausgestrahlt) ebenso wie, weit über die Grenzen Belgiens hinaus, die Aufmerksamkeit von AktivistInnen, FilmemacherInnen, WissenschaftlerInnen et al. - und schließlich auch die Aufmerksamkeit eines wachsenden Publikums, in das sich etwa auch kritische MitarbeiterInnen des EU-Parlaments mischten.
In Diskussionen, Filmpräsentationen und Themenabenden wurde so ein Kaleidoskop politischer und sozialer Konfliktlinien sichtbar: von den Implikationen der juridischen EU-Programme bis zu den erstaunlich offensiven Aktionen des belgischen Kollektivs "Sans Ticket", das etwa unter teils erfolgreichem Einsatz eigener "Sans Ticket"-Ausweise den freien Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln fordert; von einer vergleichenden Analyse der sozialen Kämpfe in Chiapas und Kolumbien zur desaströsen Situation jener völlig entrechteten maghrebinischen SaisonarbeiterInnen im andalusischen El Ejido, die im Februar 2000 Opfer pogromartiger Ausschreitungen wurden; von der Reflexion der Ereignisse beim G-8-Gipfel von Genua bis zur Dokumentation der zwei Jahre währenden Besetzung der Barockkirche von Béguinage durch Brüsseler Sans-Papiers, einer direkten Reaktion auf den Tod der Nigerianerin Semira Adamu, die - ein knappes Jahr vor Marcus Omofuma - ihre Abschiebung nicht überlebt hatte. (Dieselbe Gruppe von Sans-Papiers hält übrigens seit nunmehr einem Jahr die aufgelassene Brüsseler Botschaft von Somalia besetzt.)
Das Projekt BruXXel-Gare konnte so gleich einen mehrfachen Coup landen: eine gelungene Verbindung von politischer Aktion und profunden Analysen; die symbolisch präzise Setzung eines realen Ortes der beharrlichen Intervention, die einer ganzen Reihe von Räumungsbefehlen standhielt, zuletzt unter Vermittlung der belgischen Verkehrsministerin; schließlich die (noch durch das freie "Radio BruXXel" ergänzte) Erzeugung einer Öffentlichkeit, in der radikal-kritische politische Positionen nicht nur nebeneinander auftreten, sondern auch verhandelt werden.
Etwa zwei Wochen vor dem EU-Gipfel von Laeken und jenem "Gegen-Gipfel" , der zumindest inhaltlich kaum stattgefunden hat, fand sich im besetzten Bahnhof des Quartier Léopold eine kleine Gruppe von Menschen zusammen, die - nach dem Vorbild im brasilianischen Porto Alegre - ein jährliches Brüsseler "World Social Forum" zu initiieren versuchen, ab 2004, jenem Jahr also, in dem sämtliche EU-Gipfel in der europäischen Hauptstadt abgehalten werden. Für die globalisierungskritische Bewegung könnte das ein wichtiger Schritt sein; sie wird sich allerdings viele Orte schaffen müssen.
Stefan Nowotny ist Philosoph, lebt in Brüssel und Wien und arbeitet derzeit am Centre de Philosophie du Droit, Universität Louvain-la-Neuve, Belgien.
Beat Weber war vier Monate Eurokrat in Brüssel, zur Zeit Bankbeamter in Wien.