Divide et Impera. Ein Interview mit Arundhati Roy.

Vom 14. bis zum 20. November 2005 fand im indischen „IT-Mekka“ Bangalore das von der Wiener Medienkultur-Institution Netbase mitinitiierte Kulturprojekt „World-Information City“ statt. Konrad Becker traf dort die Schriftstellerin und politische Aktivistin Arundhati Roy und sprach mit ihr über die Auswirkungen von ökonomischer Globalisierung und neuen Informationstechnologien (IT) auf den indischen Subkontinent.

Vom 14. bis zum 20. November 2005 fand im indischen „IT-Mekka“ Bangalore das von der Wiener Medienkultur-Institution Netbase mitinitiierte Kulturprojekt „World-Information City“ statt. Konrad Becker traf dort die Schriftstellerin und politische Aktivistin Arundhati Roy und sprach mit ihr über die Auswirkungen von ökonomischer Globalisierung und neuen Informationstechnologien (IT) auf den indischen Subkontinent.

Konrad Becker: Bangalore ist eines der seltenen Beispiele für eine Stadt, deren Name zusätzlich kodiert, mit einer neuen Bedeutung versehen wurde: „to bangalore“ beschreibt das digitale outsourcing von Arbeitsleistung in eine andere Region. Was halten Sie von dieser Metaphorik der Informationstechnologien, die ja auch von der Regierung in diesem Land und den verschiedenen Firmen weiter vermittelt wird?

Arundhati Roy: Bis vor einiger Zeit wurde Hyderabad als Cyber City bezeichnet und der Chief Minister [Bürgermeister, Anm.] bezeichnete sich selbst als Chief Executive Officer, also als Vorstandsvorsitzender. In Karnataka und Andhra Pradesh waren Politiker im Visier der Weltbank und der Asian Development Bank, allgemein gesprochen des Neoliberalismus. Dieses „Projekt Neoliberalismus“ hat deshalb Erfolg, weil einige Leute davon profitieren, es sich damit eine Basis schafft und Bangalore wird als viel versprechender Austragungsort für dieses Projekt gehandelt. Was sich im Zuge dieses Projekts in Bangalore und Hyderabad, ebenso wie auch in Kalkutta und Chennai beobachten lässt, ist die Errichtung von Sicherheitszonen. Diese stellen internationale, höchst privilegierte Gebiete inmitten eines Meeres von Verzweiflung und Armut dar. Die Frage nach dem „Wer zahlt und wer zieht den Nutzen?“ ist ja keine neue, in solchen Zonen ist aber nicht einmal die Frage der engen Zusammenarbeit von Firmen und Regierungen eine neue Frage. Die IT-Industrie in Bangalore zeigt, wie eng diese Bindungen sind: Die Unternehmen, Proponenten der freien Markwirtschaft, werden vollständig von staatlicher Seite subventioniert. Der Grund dafür, dass sie all diese wertvollen Stadtgebiete auf Subventionsbasis bekommen, ist, dass sie die Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen versprechen – aber für wen sind diese Arbeitsplätze vorgesehen? Einmal mehr profitiert nur die Elite Indiens davon. All das hat aber zusätzlich weiter reichende Konsequenzen bis in die Landgebie- te hinein, denn die IT-Unternehmen arbeiten auch in einer anderen Frage eng mit der staatlichen Seite zusammen, wenn sie nämlich gemeinsam versuchen, die ärmeren Bewohner der Stadt aus dieser zu verdrängen und die Legitimität ihres Aufenthalts, ihres Lebens in der Stadt in Frage zu stellen. Genau diese Leute wollen Indien urbanisieren! Sie sagen, dass sich die Landwirtschaft in Indien wirtschaftlich nur rentieren kann, wenn die Zahl der heute 700 Millionen Menschen, die mit der Landwirtschaft zu tun haben, auf 20 Millionen gesenkt wird. Und der Rest? Der muss in die Stadt gehen. Man sieht, einerseits werden die Leute in die Stadt vertrieben, nur sind sie dort ebenso unerwünscht wie vorher am Land.

Konrad Becker: Strebt die Mittelklasse in Indien danach, an diesen Prozessen teilzuhaben? Es sieht doch so aus, dass die Konflikte und Antagonismen sich auch innerhalb der Blase zu vermehren beginnen. Erst vor 2 Wochen gab es eine Auseinandersetzung zwischen Stadtpolitikern und dem Vorstandsvorsitzenden von Infosys, der größten IT-Firma hier in der Stadt. Auf einer weiteren Ebene bekommt man das Gefühl, dass die Euphorie der Mittelklasse in den Städten im Sinken begriffen, die Stimmung eher gedämpft ist.

Arundhati Roy: Das ist richtig. Es ist ja auch nicht so, dass der gesamte urbane Raum ein privilegierter Raum ist; es sind privilegierte Kleinsträume, Blasen, innerhalb des Ganzen. Die größten und härtesten Konflikte werden in den Städten ausgetragen werden und sie werden nicht einmal besonders progressives Potential besitzen. Sie könnten genaugenommen nicht viel mehr als der Ausbruch von krimineller Energie sein, die sich in Gewalt zwischen Unterprivilegierten äußert: Arm gegen Arm oder Schwarz gegen Schwarz, wie dies in vielen Städten der westlichen Hemisphäre geschieht. Die Realität sieht so aus: Über Nacht werden z.B. in Bombay oder Delhi 400.000 Menschen vertrieben. Die großen Firmen versuchen, wichtige Entscheidungen aus der öffentlichen Verantwortung, aus den Händen der Politiker zu nehmen und sich selbst zuzuschanzen – Politiker, egal wie man zu ihnen stehen mag, müssen sich immerhin der Öffentlichkeit stellen und sei es nur der Wählerstimmen wegen. Die großen Firmen müssen das nicht. Was mich verwunderte, war, als jemand – offensichtlich nicht aus Indien – bei der Konferenz sagte, dass Wahlen sozusagen das „Denkmal der Demokratie“ wären. Hier in Indien sind Wahlen zu einer Art Zirkus ohne Parteiprogramme verkommen; es gibt eine Ideologie des Herrschens und eine Ideologie der Opposition. Was du sagst, hängt davon ab, ob du in der Opposition oder unter den Regierenden bist. Es ist hier also notwendig, unter neuen Perspektiven auf die politischen Vorgänge zu blicken.

Konrad Becker: Bangalore rühmt sich ja auch Stadt der Biotechnologien zu sein. Es ist also auch eine Fusion zwischen den Informations- und den Biotechnologien zu sehen. Zur gleichen Zeit aber ist Indien das Ziel von Bio-Piraterie. Einige der berühmtesten Fälle sind hier geschehen. Ebenfalls zur gleichen Zeit gibt es eine Gesetzesänderung bei Patenten, die großen Einfluss auf den Status der generischen Pharmaindustrie hat. Wie sehen Sie diese Entwicklungen?

Arundhati Roy: Es ist doch so, dass wir in diesen Bereichen den Blick über die Grenzen des Nationalstaates heben und erkennen müssen, dass hier eine Zusammenarbeit von Eliten stattfindet, und was gut für die indischen Eliten ist, das ist auch gut für die amerikanischen Eliten. Es dreht sich also um die alte Frage: „Wie verhinderst du den Aufstand in der Gesindestube?“ – so wie im kolonialisierten Indien. Wie viele weiße Briten waren damals in Indien? Einige wenige Tausend. Die einzige Möglichkeit, dieses Reich zu regieren, bestand auch für sie in der Zusammenarbeit mit den lokalen Eliten. In Westafrika oder auf dem amerikanischen Kontinent waren für die Durchsetzung kolonialistischer Machtstrukturen Genozide „notwendig“ – der Genozid war hier also der Vorläufer des Kolonialismus. Hier in Indien ist das nicht passiert, wir hatten und haben bereits eine höchst hierarchische Gesellschaft, deren Unterschiede und Differenzen heute auch nicht von den Informationstechnologien und der Globalisierung verändert werden können. Im Gegenteil verstärken diese die Differenzen.

Konrad Becker: Sie sprachen davon, dass dieser IT-Hype in einigen der von ihnen erwähnten Städten in Indien auf Kosten der Landbevölkerung vonstatten geht. Zur gleichen Zeit gibt es Versuche und Programme von Seiten der Regierung, dass genau diese ländlichen Gebiete hinsichtlich IT erschlossen werden sollen, und zwar mit dem Argument der Wirtschaftlichkeit: bessere Landwirtschaft, bessere Wetter- und Marktinformationen usw. Wie kann das funktionieren?

Arundhati Roy: Für die Regierung ist es entscheidend, IT auch in die ländlichen Gebiete zu bringen, ebenso wie es für die kolonialen Herrscher entscheidend war, das Land durch Straßen und Eisenbahn zu erschließen. Wer glaubt, dass den Leuten das Reisen erleichtert oder überhaupt ermöglicht hätte werden sollen, irrt. Es ging einzig und allein um die Ausfuhr von Gütern und Rohmaterialien – zum Hafen und aus dem Land. In der Frage von IT herrscht der gleiche Gedanke vor, auch und vor allem hinsichtlich der Vernetzung und Überwachung. Zwei Punkte sind hier von besonderer Bedeutung. Einerseits die Vereinnahmung der ländlichen Gebiete durch private Firmen und zweitens die Privatisierung von Saatgut. Die Regierung plant einem Gesetzesentwurf zuzustimmen, der es den Bauern verbieten soll, ihr eigenes Saatgut zu verwenden oder zu veräußern. Dieser Entwurf sieht aber auch vor, dass es Polizeikräften gestattet sein soll, jedes Haus zu durchsuchen und beim Auffinden von nicht registriertem Saatgut Verhaftungen durchzuführen. Wie in anderen Städten der Dritten Welt sind auch in diesem Land wenigstens 70% einer Stadt illegal und abhängig von korrumpierten Netzwerken. Genau diese Situation wird nun also auch auf das Land hinaus transportiert werden, wobei künftig die Bevölkerungsmehrheit dort einfach geduldet werden muss, weil letztlich jeder illegal sein wird. Gezwungenermaßen illegal: Entweder sie machen Saatgut nach (im Sinne einer Verletzung bestehender Patentrechte) oder sie treiben illegalen Handel mit Saatgut – in jedem Fall begehen sie eine Straftat. Und hier ist es dem Staat natürlich wichtig, auf Überwachungsmechanismen wie Personalausweise zurückgreifen zu können – einfach um zu wissen, was am Land vor sich geht, denn im Moment herrschen dort in dieser Hinsicht noch anarchische Zustände, was ganz wunderbar ist.

Konrad Becker: Eine drängende Frage unter sozialen Aktivisten im Moment ist, welche Art des Widerstandes gegen diese IT-bestärkte neoliberale Religion zielführend sein könnte. Hat es Sinn, auf die Straße zu gehen? Liegt Macht überhaupt noch in den Straßen?

Arundhati Roy: Oder ist es nicht vielmehr so: „Die da oben“ haben eben gelernt damit umzugehen. Jedes Mal wenn jemand auf der Straße protestiert, warten die Regierungen. Sie nehmen sich sozusagen kurzfristig einen Tag frei und der nächste Tag wird für beide Seiten wieder ein normaler Arbeitstag sein. Die zweite Strategie ist weniger neu: Kauf dir die wichtigen Leute aus dem Widerstand, verführe sie weg vom Widerstand oder töte sie einfach. Wenn Widerstand nicht vor Gewaltanwendung zurückscheut, so begegnet ihm der Staat mit einem extremen Maß an Gegengewalt – gewaltfreier Widerstand dagegen wird ignoriert. Wenn Widerstand zu leisten also grundsätzlich auf den Umsturz hinausläuft, dann gilt es, dies auch in großem Stil zu machen!

Anmerkung
Redaktionelle Mitarbeit und Übersetzung: Peter Karoshi

Mehr Infos zum Projekt „World-Information City“ finden sich auf der Website:

World-Information City

Arundhati Roy ist Schriftstellerin und politische Aktivistin, lebt in New Delhi.

Konrad Becker ist Leiter des Instituts für Neue Kulturtechnologien/ t0 in Wien.

t0

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