Erinnerungen und die Stadt
Wenn man über Barcelona spricht, muss man Carmen Amaya und Somorrostro, ihr Viertel, erwähnen – ein Elendsviertel auf dem Sand am Meer gebaut. Weder die Baracken noch die Kunst von Carmen Amaya sind ein Teil des Selbstbildnisses von Barcelona auf den Finanzmarktplätzen oder für die Touristen, um die Stadt in eine beliebig austauschbare Ware zu verwandeln. Das Barcelona von vor und nach den Olympischen Spielen hat Stadtviertel und Erinnerungen ausradiert, um auf ihnen eine neue Stadt zu errichten, aus welcher sie ihre eigene Geschichte hat verbannen wollen – eine komplexe Geschichte mit vielen verschiedenen Lebensläufen und vielschichtigen Erlebnissen.
Die Erinnerung bedeutet Macht, und die herrschenden Klassen haben versucht, die Geschichte, die Erinnerungen mit verschiedenen Mitteln und auf verschiedene Weise zu kontrollieren. Aber die Erinnerungen sind nicht monolithisch, und so versucht bereits seit einigen Jahren ein Frauenverein aus der „Mina”-Nachbarschaft, in welche viele Bewohner von Somorrostro umsiedelten, ihre Erinnerungen zurückzugewinnen, indem sie alle und jede einzelne der Baracken ihres ehemaligen Viertels in Karton nachbauen. Wenn ich mich recht erinnere, fand diese wunderbare Ausstellung im Rahmen des staatlichen Treffens der Frauenverbände der Nachbarschaften in urbanem und sozialem Umbruch statt. Dieses Treffen wurde von der „Associació De Dones Adrianes de la Mina (Adrianes, Verein der Frauen der Mina-Nachbarschaft)“ im Jahr 2006 organisiert.
Dem Verein gehören Roma-, aber auch anderen Frauen an, welche die Erinnerung an ihre Häuser wachhalten möchten. Diese Häuser wurden von manchen mit dem Wort „Baracken” und von anderen als „ephemere Architektur” bezeichnet und Jahre lang bewohnt. Wie ein Faustschlag zeigt die Ausstellung Bauten, Erlebniswelten und Lebensläufe auf, die das „neue” Barcelona verdrängen will. Der Kampf der Frauen des „Adrianes Vereins“ und vieler anderer Frauen gegen das Vergessen, gegen den Diskurs einer Aufbereitung der Geschichte, welche die Lebenserfahrung der einfachen Menschen und ganz speziell der Frauen, beseitigt und verbannt, hat eine lange Geschichte.
Die Ursprünge ...
Im 15. Jahrhundert formulierte Christine de Pizan einen Wunsch in Form eines Buches „La ciutat de les dames (Die Stadt der Damen)“.
Was treibt eine Frau, geboren in Italien, in Frankreich lebend, Witwe und Mutter von drei Kindern, dazu, ein Buch wie „La ciutat de les dames“ zu schreiben? Die Antwort auf diese Frage ist kurz: die Frauenfeindlichkeit dieser Zeit. Was war ihr Ziel? Der symbolische Aufbau einer Stadt für Frauen. Und um dieses Ziel zu erreichen, wird sie auf die Hilfe des Verstands, der Gerechtigkeit und der Geradheit bauen – drei Materialien, die härter und widerstandsfähiger sind als Marmor, wie sie es selbst ausdrückt.
Der erste Schritt beim Bau dieser Stadt ist der Aushub der Erde, um solide Fundamente zu schaffen, welche die Vorurteile gegen die Frauen – von Philosophen, Dichtern, Moralisten und einer langen Liste von anderen Persönlichkeiten in die Welt gesetzt, und die mit homogener Stimme sprachen und zur Schlussfolgerung kamen, dass Frauen von Natur aus pervers und dem Laster angetan sind – auszuhebeln, erklärt Christine de Pizan. Wie kann man diese Vorurteile aufzeigen? Die Antwort ist ebenso sehr prägnant: „... indem ich damit beginne, über mein eige- nes Verhalten nachzudenken, ich, die als Frau geboren wurde und auch an die anderen vielen Frauen denke, welche ich kennengelernt habe und die mir ihre intimen und geheimen Gedanken anvertraut haben.” Ab diesem Moment vertraut Christine de Pizan nicht mehr den Meinungen anderer über die Geschichte, wie andere sie gedeutet haben, sondern appelliert an das, was sie als Frau fühlt und weiß. So verwandelten sich allmählich ihre eigene Lebenserfahrung und die geteilte Erfahrung anderer in einen Pfad des Wissens, um ein neues Paradigma zu schaffen, eine neue Art zu leben, zu schaffen und sich in der Welt zu positionieren.
Die Frauen der Somorrostro Nachbarschaft appellierten mit ihrer Ausstellung an all das, was sie als Frauen fühlten und wussten, in einer konkreten Nachbarschaft in einer konkreten Stadt – Barcelona – in einer bestimmten Zeit.
Das Unwohlsein von Barcelona
In der frühen 1960er-Jahren war Barcelona in der Wahrnehmung ihrer Bürger ganz bestimmt nicht die beste Stadt, um in ihr zu leben. Weder die Bewohner der Außenbezirke noch die Bewohner der Innenstadt, dem „Eixample”, waren mit dem Zustand ihrer Viertel zufrieden. In der Vorstädten und den Außenbezirken wollten 50% der Bewohner wegen der unzureichenden Infrastruktur und der „fehlenden Animation“ wegziehen; im „Eixample” dagegen war ein ähnlicher Prozentsatz der Bewohner mit dem Lärm, dem ausufernden Verkehr und der Luftverschmutzung unzufrieden, wie der Stadtplanungsbericht von 1966 zeigt.
In der Stadt selbst war der fehlende Wohnraum das schwerwiegendste Problem. Circa 500 Hektar der Fläche waren mit Baracken verbaut. Die Baracken in der Stadt und der gesamten Umgebung waren zu einem permanenten Wohnraum angewachsen. „Das Ergebnis der vielen Baracken war eine Überfüllung des Wohnraumes” – fuhr der Bericht fort, und nicht nur in den Baracken, sondern ebenfalls in den Wohnungen im Allgemeinen. Auf der anderen Seite führten die überteuerten Mieten zu mehr oder weniger versteckten Untermieten, welche sehr oft der Grund für eine kritische Überfüllung der Wohnungen waren, wie besagter Jahresbericht aufzeigt. Barcelona hatte im Jahr 1961 eine Gesamtbevölkerung von 1.556.904 Personen, von denen 40.081 laut der offiziellen Statistik in Baracken lebten. Die ganze Wahrheit war jedoch eine ganz andere. In den Baracken lebten mehr, sehr viel mehr Menschen, als die offizielle Statistik aufzeigt. Die Baracken überfluteten fast das gesamte Küstengebiet, das heißt, das gesamte Gebiet in der Nähe des Meers, aber sie erstreckten sich auch über einen weiten Kreis am Außenrand der Stadt, von Montjuïc, Sants und Sarrià bis zum anderen Ende der Stadt, an den Hängen der Hügel, welche die Stadt abriegeln.
Die Frauen in den Baracken fristeten ein doppelt marginales Dasein. Auf der einen Seite, weil die fehlende Infrastruktur – fließendes Wasser, Licht – die Arbeiten im Haus sehr erschwerten. Auf der anderen Seite, weil die fehlenden Transportmöglichkeiten den Weg zu einem bezahlten Arbeitsplatz noch schwieriger gestalteten. Es dauerte oft Stunden über Stunden, bis die Arbeiterinnen an ihren Arbeitsplatz gelangten. Die Barackenviertel,
ganz allgemein die Vororte, sind eine Welt der Frauen gegen die Frauen. Vielleicht war dies der Grund – die Tatsache, dass die Frauen intensiver fühlten, was ein Leben im Vorort bedeutete –, dass die Frauen den Prozess begannen, um ihre Geschichte sichtbar zu machen. All die alten Barackenviertel sind heute verschwunden. Die vorherrschende Erinnerung wollte ihre Existenz, die Geschichte der Baracken und ihrer Bewohner, ausradieren. Aber die Erinnerung der Menschen, die dort lebten und Barcelona aufgebaut haben, lebt weiter. Und die Erinnerung der Frauen und der einfachen Menschen erfordert, dass ihr Platz im heutigen Stadtraum neu verhandelt wird. Die Frauen von Somorrostro haben den Anspruch erhoben, die Erinnerung an ihr altes Stadtviertel lebendig zu erhalten und ihm einen Platz in der Geschichte der Stadt zu widmen.
Die Politik der Erinnerung
In den letzten Jahren wurde die Existenz der Baracken in Barcelona in gewisser Hinsicht von den Behörden anerkannt und zugegeben, viele Jahre nachdem all jene, welche eine kurze oder auch lange Zeit ihres Lebens dort verbracht haben, eingefordert hatten, dass diese Vergangenheit der Stadt nicht weiter vergessen oder ignoriert wird.
Im Jahr 2011 eröffnete das Historische „Museum der Stadt Barcelona (Katalanisch: Museu d’Història de la Ciutat)“ eine Gedenkstätte auf dem Rovira-Hügel. Auf der einen Seite, mit den Resten einer Flakbatterie aus dem Spanischen Bürgerkrieg, auf der anderen Seite, mit den Spuren des ursprünglichen „Canons”-Barackenviertels, welches bis an das Ende der 1990er existierte.
Eine Frage drängt sich uns auf.
Wären die Überreste der Baracken respektiert und konserviert worden, hätte es die militärische Konstruktion nicht gegeben? Ich wage zu behaupten: wahrscheinlich nicht. In der Geschichtsschreibung hat der Krieg einen prominenten Platz eingenommen, so als wären Krieg und Gewalt der Motor der Geschichte. Stattdessen weckte das Leben der Bewohnungen nebenan nicht die Aufmerksamkeit der Historiker, bis die Bewohner selbst ihren Platz in der Erinnerung und der kollektiven Geschichte einforderten.
Das Erbe als kulturelles Gebäude
Das Erbe ist eine Art von literarischem Kanon. Als solcher Kanon entwickelt jede Epoche ihren eigenen Kanon, was erhaltenswert und lesenswert ist. So ist das Erbe eine kulturelle Konstruktion, welche einzelne Bauten mit dem Ziel, einen Teil der Stadtgeschichte zu erhalten, unterstreicht. Deshalb bedeutet Erbe auch Auslese, Wahl und besitzt so seine eigenen Kriterien, die – nicht immer explizit ausgedrückt – einzelne Erinnerungen gegenüber anderen Erinnerungen priorisieren. Das Erbe ist eine Übung der Erinnerung, welche von einer Klasse den anderen Klassen, von einem Geschlecht dem anderen aufgezwungen wird. Es wurden Erinnerungen erhalten und aufgezwungen, die nicht im mer unseren reellen Lebensläufen entsprechen.
Um es kurz zu fassen:
Erbe ist immer ein Pakt, ein Verhandeln zwischen den verschiedenen Akteuren der Stadt, um ihre Präsenz zu erhalten. Mit zunehmender Demokratisierung werden neue soziale Rechte aufgenommen, und die Erinnerung wird vielfältiger. Das Erbe ist eine Geschichte, eine Erzählung, eine Aufarbeitung der Geschichte. Im Aufbau dieser historischen Erzählung ist es ebenso wichtig herauszufinden, was hervorgestrichen und vor dem Abriss geschützt wird und was außen vor bleibt. In einer Stadt koexistieren verschiedene Erinnerungen, die sich auf verschiedenen Ebenen bewegen. Die Herausforderung ist, diese Erinnerungen wahrzunehmen und in das Gesamtbild einzufügen.