Das eigentliche Problem. Feministische Kulturarbeit im ländlichen Raum
Netzwerkarbeit und Bewusstseinsbildung unter Frauen im ländlichen Raum stößt immer wieder auf tief verankerte Einschränkungen, Vorurteile und Probleme. Frauennetzwerke wie etwa die murauerInnen (Murau) oder Iron Women (Steirische Eisenstraße) bieten Frauen aus unterschiedlichen sozialen Milieus die Möglichkeit, sich zu vernetzten und auszutauschen und somit die eigene Position in der Region zu stärken.
Frauennetzwerke in ländlichen Räumen schaffen Freiräume, die als „Safe Spaces“ für Frauen fungieren, die in den vorhandenen traditionellen Strukturen keinen Platz finden. Sie tragen so dazu bei, einen Schritt weiter in Richtung Selbstermächtigung und Mitgestaltung zu machen, sich eigene Rollenbilder zu erschaffen, eigene Lebenswelten sichtbar zu machen und eigene Wünsche und Potenziale zu erkennen. Wenn es um gesellschaftlich eingefahrene Strukturen geht, ist die Kulturarbeit das geeignete Mittel, um die Dinge kritisch zu beleuchten, auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen. In diesem Kontext ist auch folgender Text entstanden. Es sollte um feministische Kulturarbeit am Land gehen, doch über diese kann nicht geschrieben werden, ohne das eigentliche Problem zu benennen ...
„Das eigentliche Problem ist, dass die Frauen nicht mehr so viele Kinder bekommen wie früher“, sagt der Mann im Büro hinterm Schreibtisch. „Schau, früher waren auf jedem Hof fünf, sechs oder mehr Kinder. Die Schulen waren voll und es gab genügend Leute zum Arbeiten, aber jetzt?! Ein, zwei Kinder und dann ist es schon wieder aus! Wir haben einfach keine Leute mehr.“ „Na dann“, sag ich, steh auf klappe meinen Laptop zu, „...fahr ich jetzt nach Hause und lass mich schwängern.“
Zugegeben, der letzte Satz ist fiktiv. Die anderen nicht. Die Überzeugung, dass das Grundproblem der strukturschwachen Gemeinden in der nicht vorhandenen Gebärfreudigkeit der Frauen liegt, zieht sich wie ein roter Faden durch die Aussagen der Entscheidungsträger. Formulierung und Ausschmückung schwanken dabei nur geringfügig. Mal ist das Problem „die niedrige Geburtenrate“, dann sind es „die Familien, die zu wenige Kinder haben“, oft aber sind es ganz konkret „die Frauen, die nicht wollen“. Die Aussagen fallen in privaten Gesprächen genauso wie in beruflichen Besprechungen und – mein persönliches Highlight – bei öffentlichen Veranstaltungen vom Podium aus.
Und während den Frauen im Publikum vor Wut die Eierstöcke implodieren, wird am Ende doch artig geklatscht. Einige applaudieren aus Höflichkeit, die anderen aus Gewohnheit, nicht wenige aus Überzeugung. Eine tiefere und ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema sucht man vergeblich.
© Grafik murauerInnen, Text Ines Fingerlos
Die Rechnung
Die Mär von der Geburtenrate hält sich konsequent, denn eine größere Bevölkerung heißt auch mehr Geld für die Gemeinden, eine Tatsache, die wir dem Finanzausgleich verdanken. Dieser regelt die finanziellen Beziehungen zwischen Bund, Bundesländern und Gemeinden. Steuereinnahmen, die der Bund einhebt, werden (vereinfacht gesagt) pro Einwohner*in auf die Gemeinden verteilt. Je mehr Hauptwohnsitze in einer Gemeinde angemeldet sind, desto mehr Geld bekommt sie. Diese Regelung wurde nach dem zweiten Weltkrieg getroffen, als die größeren Städte deutlich mehr Kriegsschäden zu verkraften hatten als ländliche Gemeinden. Ein fast achtzig Jahre altes Erbe.
Eine weitere wichtige Einnahmequelle für Gemeinden ist neben Grundsteuer, Hundesteuer und anderen die Kommunalsteuer. Sie ist von Unternehmen als Teil der Lohnnebenkosten direkt an die Gemeinden zu entrichten. Wenn die Bevölkerung abnimmt, gibt es weniger Arbeitnehmer*innen, die von Betrieben angestellt werden können, und es gibt weniger Steuereinnahmen. Im schlimmsten Fall wandern die Betriebe ab. Gleichzeitig sind die Ausgaben der Gemeinden in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Das beginnt bei vermeintlich kleinen Dingen wie der Erhaltung von Sportanlagen, deren Standards permanent steigen, und geht bis zu den Veranstaltungen, die heute kostspieligere Licht- und Tontechnik benötigen. Gestiegen sind auch die Kosten pro Kopf für Kinderbetreuung, nicht zu vergessen die Ausgaben für Strukturerhaltung (Straßen, Wasser, Abwasser, Bildung, Gesundheit, Pflege usw.). Und als ganz gegenwärtiges Problem steigen auch die Kosten für Schutzmaßnahmen gegen die Folgen von Starkregen bzw. für die Beseitigung der entstandenen Schäden.
Höhere Anforderungen bedeuten höhere Ausgaben, während sich die Möglichkeiten für Einnahmen nicht wirklich erweitert haben. Die Rechnung für Landgemeinden lautet daher: Wenn Frauen wieder mehr Kinder bekommen würden, gäbe es mehr Geld beim Finanzausgleich und mehr zukünftige Arbeiter*innen für die Betriebe. Punkt. Oder doch eher Fragezeichen?
Mal angenommen
... es gäbe zur Rettung der Region eine flächendeckende Durchschwängerung der gebärfähigen Bevölkerung des Bezirks Murau (das sind 30% der weiblichen Bevölkerung, ca. 4.350 Frauen) und eine Wiederholung dieses Vorgangs nach zwei Jahren. In vier Jahren hätte sich der derzeitigen Bevölkerungsstand von 27.314 um 8.700 vergrößert. Das wäre der höchste Bevölkerungsstand, den der Bezirk je hatte. Die ersten Kinder zur Wiederbelebung der Volksschulen wären in sieben Jahren fertig, die ersten Lehrlinge in 16.
Bis dahin würden allerdings die Frauen, die in von Arbeitskräftemangel betroffenen Bereichen wie Gastro, Tourismus, Pflege, Bildung und Handel arbeiten, wegfallen und nach der Karenzzeit auch wegbleiben, denn die Kinderbetreuung soll bitte zuhause erfolgen, kostenlos für Bund, Land und Gemeinde. Jene unter den 4.350 Gebärfähigen, die selbstständig sind, müssten ihren Job an den Nagel hängen, ca. 1.000 junge Frauen würden ihre schulische Ausbildung nicht beenden.
Zur Versorgung der Mütter und Kinder müsste das Einkommen der Väter herangezogen werden. Für den Bezirk Murau liegt das durchschnittlich bei 3.346 Euro brutto, wobei es große Unterschiede zwischen einzelnen Berufsgruppen gibt. Inflationsbedingte Unsicherheiten und die Mehrkosten, die die zwei neuen Kinder pro Vater-Einkommen erzeugen, müssen von den Familien irgendwie aufgebracht werden. Die Volksschulen, die in sieben Jahren mit durchschnittlich 300 Kindern pro Schule (das sind zwölf Klassen) wiederbelebt werden, müssten bis dahin mit deutlich weniger Lehrpersonal auskommen, denn die Lehrerinnen sind daheim bei ihren eigenen neuen Kindern. Mit der Frage, wer 2030 die 300 neuen Kinder unterrichtet, beschäftigen wir uns also besser ein anderes Mal.
Das Problem ist ..., dass ihr jahrzehntelang die Bedürfnisse der Hälfte der Bevölkerung einfach nicht wahrgenommen habt.
Die Wirtschaft müsste, während sie 16 Jahre lang auf die neuen Lehrlinge wartet, halt noch schauen, wie sie bis dahin ohne die Gebärfähigen über die Runden kommt. Die Friseursalons würden sich vermutlich etwas schwertun, weil sich weniger Frauen das Waschen, Färben, Schneiden leisten könnten und auch weniger Personal da wäre. Einige müssten sicher zusperren, das wäre sozusagen Strukturbereinigung. Die Geschäftsführer der Betriebe müssten ihre Assistentinnen durch Assistenten ersetzen und diesen dann auch ein angemessenes (meint: für einen Mann ansprechendes) Gehalt zahlen, immerhin hätten viele von ihnen nun mindestens eine vierköpfige Familie durchzubringen. Alle Stellen von Frauen müssten von männlichen Kollegen besetzt werden, die im Durchschnitt 1.366 Euro mehr verdienen. Bei den Hebammen, Pflegerinnen, Tagesmüttern und Kindergärtnerin- nen, Putzkräften wäre dieser Austausch besonders spannend. Die rund 30 % der Frauen, die nicht mehr gebär- und noch nicht pensionsfähig sind, stünden der Wirtschaft, die bekanntlich gerade nach mehr Vollzeitanstellungen verlangt, natürlich trotzdem zur Verfügung, sofern sie nicht wegen familiärer oder freundschaftlicher Beziehungen in die kostenlose Kinderbetreuung daheim eingebunden wären.
Der Bevölkerungsstand wäre über dem Niveau der 1970er Jahre, einer Ausnahmeperiode der Geschichte. Da hatte der Bezirk 32.848 Einwohnern*innen (ca. 22 % mehr als heute) und damit den höchsten Stand aller Zeiten. Die 1970er waren zufällig auch die Zeit, in der die meisten Männer in Büros hinter Schreibtischen sozialisiert wurden. Es sind die Mitglieder der sogenannten Boomer-Generation, die aufgewachsen sind in einer Zeit, in der viel Arbeit noch viel Geld bedeuten konnte, in der das Wachstum grenzenlos schien, in der es allen gut ging, weil es der Wirtschaft gut ging, und in der jene, denen es nicht gut ging, vor lauter Arbeit eh keine Zeit zum Jammern hatten.
In dieser Zeit haben sich Wertvorstellungen und Prioritäten gebildet und gefestigt, die bis heute weiterleben. Anhand dieser Vorstellungen werden heute Entscheidungen getroffen, auch wenn die Realität längst eine völlig andere ist. Diese Werte der „guten alten Zeit“ sind beispielsweise Leistungsbereitschaft und Fleiß, der Glaube an unbegrenztes Wachstum und die Allmacht der Technik und ein ausgeprägter Hang zu Statussymbolen. Es sind Werte aus einer Zeit, in der noch klar war, wer wen in der Familie wie unter- stützt, als es mehr Kinder gab als alte Leute, als das Essen zu Mittag verlässlich auf dem Tisch und Ehe und Beruf „für immer“ waren. Die Werte von damals. Damals, als die Musikvereine noch keine eigenen Vereinsheime hatten, sondern in der verrauchten Gaststube des Dorfwirtshauses probten. Damals, als die Fußballplätze noch mit braunen Flecken durchzogen waren, weil die Bewässerungsanlage noch nicht erfunden war. Damals, als sich die VW-Käfer auf einspurigen, vom letzten Regen lädierten Schotterstraßen die Berghänge hinauf wanden, wo sich heute die Toyota Hilux gegenseitig auf dem Asphalt überholen.
Dieses Damals will komischerweise niemand zurück. Weder Bürgermeister*innen noch Vereinsobleute noch Landesräte oder Landesrätinnen rufen vom Podium aus die Musikkapellen dazu auf, für ihre Proben in die Gasthäuser zurückzukehren, weil am Vereinsheim gespart werden muss. Niemand sagt den Fußballvereinen, sie sollen wieder auf den alten Plätzen spielen, weil die Erhaltung günstiger ist. Niemand ruft dazu auf, leichtere und schmalere Autos zu kaufen, damit die Straßen nicht unnötig belastet und stetig verbreitert werden müssen. Niemand würde auf die Idee kommen, dass der in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Weiterentwicklung, dem Wirtschaftswachstum und den gestiegenen Lebensstandards entstandene Status quo reduziert werden muss, weil er nicht mehr finanzierbar ist. Zumindest öffentlich will das niemand gern laut sagen.
Nur in den Bereichen, die in unserer Gesellschaft nach wie vor vorwiegend „Frauensache“ sind, traut man sich mit diesem Argument aus der Deckung. Da scheint es egal zu sein, welche Rechte erkämpft wurden, welche neuen Berufsfelder erschlossen wurden, welche Ausbildung gemacht wurde, welche Bedürfnisse etabliert wurden. Die Frauen sind es, die zurück ins Damals geschickt werden sollen. Zurück in die Küche, zu den Kindern, in finanzielle Abhängigkeit.
Die Rechnung für Landgemeinden lautet daher: Wenn Frauen wieder mehr Kinder bekommen würden, gäbe es mehr Geld beim Finanzausgleich und mehr zukünftige Arbeiter*innen für
Die Rechnung für Landgemeinden lautet daher: Wenn Frauen wieder mehr Kinder bekommen würden, gäbe es mehr Geld beim Finanzausgleich und mehr zukünftige Arbeiter*innen für die Betriebe.
Das eigentliche Problem
„Das Problem ist“, sage ich zum Mann im Büro hinterm Schreibtisch, „dass ihr jahrzehntelang die Bedürfnisse der Hälfte der Bevölkerung einfach nicht wahrgenommen habt. Während die Vereinsobmänner direkt mit euch am Biertisch gesessen sind und die Vertreter der Wirtschaft sowieso, waren die Frauen – bis auf wenige Ausnahmen – anderswo. Sie waren hinter der Theke beim Ausschenken, daheim bei euren Kindern oder längst nicht mehr da, weil sie weggezogen sind in irgendeine Stadt, für irgendeine Ausbildung oder für ein anderes Leben.
Das war völlig normal für euch, das war eben so. Genauso normal wie das gebügelte Hemd, die geputzten Schuhe und das fertige Essen, die euch zuerst die Mutter und später die Frau gerichtet haben. Das Problem ist, das euer ‚normal‘ nicht normal war, sondern nur das Resultat der Zeit, in der ihr groß geworden seid. Das Problem ist, dass ihr jetzt ansteht und nichts weitergeht, weil die alten Strukturen, von denen ihr profitiert habt, die ihr mitaufgebaut und gefestigt habt, nicht mehr funktionieren. Dass nun das Versagen eines auf Wachstum aufgebauten Systems mit dem individuellen Befüllen von Gebärmüttern verhindert werden soll. Und statt gemeinsam an etwas Neuem zu arbeiten, holt ihr im Alleingang das ‚Damals‘ wieder raus!“
„Und während du jetzt wahrscheinlich darüber nachdenkst, beleidigt zu sein, weil ich deine Generation und deine Geschlechtsgenossen kritisiert habe, wird mir dieses Gefühl nicht zugestanden, auch wenn mir vom Podium aus vermittelt wird, dass es zwar nett ist, dass ich da bin und die Projekte und das Engagement auch ganz lieb sind, dass es aber schon gescheiter gewesen wäre, ich hätte meine Existenz der Reproduktion und Aufzucht der Spezies gewidmet. Und wenn wir schon dabei sind, soll ich dir sagen, was das eigentliche Problem ist? Das wirklich wahre eigentliche Problem? Das eigentliche Problem ist, dass auch jene, die das nicht öffentlich sagen, deine mächtigeren Kollegen, die mit PR-Schulung und Rhetoriktraining, innen drinnen fest an diese alten Werte glauben und auch danach handeln. Dass die Veränderung einer veralteten Struktur nicht zur Debatte steht, weil das ein Prozess ist, der über die eigene Amtsperiode und zum Teil über die eigene Zuständigkeit hinausreicht, weil der Ausgang unklar ist, vom drohenden Machtverlust und den Konflikten mit Parteifreunden gar nicht zu reden. Darum werden auch Frauenprojekte, die bei strukturellen Fragen ansetzen, die sagen: ‚He, da stimmt grundsätzlich was nicht‘, nicht gefördert, sondern nur jene, die resilienter machen, die dazu beitragen sollen, dass die Frauen die Mehrfachbelastung doch irgendwie stemmen, um nur ja das System weiterhin so zu erhalten, wie es ist. Angesichts dieser komplexen Situation einfach zu sagen: ‚Es liegt daran, dass die Frauen nicht mehr so viele Kinder bekommen wie früher‘, bringt in Wirklichkeit niemanden weiter. Auch euch nicht.“ „Stimmt“, sagt der Mann im Büro hinterm Schreibtisch: „daran sollten wir wirklich arbeiten!“ Zugegeben, der letzte Satz war fiktiv.
© Grafik murauerInnen
Der Artikel erschien zum ersten Mal im September 2023 in „7-das Magazin der murauerInnen“. Eine der häufigen Überlebensstrategien von Frauennetzwerken ist die interregionale Unterstützung. Um Frauen und Autorinnen vor Ort zu stärken und um dem Druck lokaler Machtstrukturen entgegenzuwirken, ermöglichen wir diesem Text eine österreichweite Sichtbarkeit.
murauerInnen: https://www.facebook.com/murauerInnen Iron Women: https://www.steirische-eisenstrasse.at/ iron-women/
Women*s Action Forum: https://womensactionforum.at/ wafstyria/
Gunilla Plank ist selbstständige Kulturaktivisten mit Schwerpunkt Regionalentwicklung. Sie ist Obfrau der murauerInnen, Projektbegleiterin der Iron Women und Mitglied des Women*s Action Forum.
Dieser Artikel erschien zur Unterstützung der feministischen Kulturarbeit in ländlichen Regionen auch in der Ausgabe 1.23 „LAND KULTUR ARBEIT“ des Magazins der IG Kultur Österreich – Zentralorgan für Kulturpolitik und Propaganda.
Das Magazin kann unter @email (5 €) bestellt werden.
Coverbild: Initiative murauerInnen, 2023