Sozialer Zirkus in Palästina
Die Palästinensische Zirkusschule wurde zwischen 2006 und 2009 von Jessika Devlieghere und Shadi Zmorrod gegründet.
Nur wenige Monate nachdem ich meine Ausbildung an der Zirkusschule „Die Etage“ in Berlin 2012 abgeschlossen hatte, reiste ich nach Palästina, um zwei Monate als freiwillige Trainerin an der Zirkusschule in Birzeit, nahe Ramallah, zu arbeiten.
Die Palästinensische Zirkusschule wurde zwischen 2006 und 2009 von Jessika Devlieghere und Shadi Zmorrod gegründet. Für sie beinhaltet Zirkus, vor allem im palästinensischen Kontext, eine starke sozialpädagogische Logik: „Zirkustraining vermittelt wichtige Werte wie Gleichheit der Menschen oder Kooperation statt Wettbewerb. Außerdem kann Zirkus helfen, wahre Geschichten zu erzählen, negative Energie umzuwandeln und die Jugendlichen zu stärken. Jedes Stück entsteht aus den persönlichen Erfahrungen der ArtistInnen“.
Daher erfolgt die Arbeit der Schule hauptsächlich auf zwei Ebenen: Einerseits durch direkte, pädagogische Arbeit im Rahmen des „Sozialen Zirkus“: Die Zirkusdisziplinen werden als Werkzeug für Ausdruck und Transformation eingesetzt; das körperliche und kreative Potenzial der SchülerInnen wird gestärkt und sie werden so zu konstruktiven AkteurInnen der Gesellschaft.
Andererseits durch die öffentliche Präsentation künstlerischer Arbeiten: Die durch die pädagogische Praxis entstandenen Zirkusproduktionen werden vor lokalem Publikum aufgeführt. Die Kunstform soll als Medium für Meinungsfreiheit fungieren. Es soll lokal und international nicht nur ein Bewusstsein für palästinensische Kunst, sondern auch für die vielen Herausforderungen der palästinensischen Gesellschaft gestärkt werden.
Kürzlich feierte die Schule ihr zehnjähriges Jubiläum und veranstaltete das erste Zirkusfestival in Palästina: Dabei wurden lokale und internationale Zirkus-Stücke und Workshops zu tausenden Kindern, Jugendlichen und Familien in ganz Palästina gebracht.
Ich hatte versucht, mich im Vorhinein, mit Hilfe von Artikeln und Dokumentarfilmen, mit der Geschichte des Konflikts zwischen Israel und Palästina auseinanderzusetzen und so ein grundlegendes Verständnis der politischen Situation gewonnen. Jedoch war ich weit davon entfernt, die Implikationen und Auswirkungen eines Lebens unter Besatzung zu verstehen oder was es bedeutet, sozialen Zirkus „hinter der Mauer“ zu machen.
Bei meiner Ankunft in Israel war ich nervös, und die Einreiseprozedur, bei der ich mit Fragen überhäuft wurde, war einschüchternd. Meine erste Erfahrung beim Passieren eines Kontrollpunktes im Westen Jerusalems brachte jedoch schnell auch meine privilegierte Position als Inhaberin eines portugiesischen Passes ans Licht: Die Durchreise war für mich problemfrei und als weiß-europäische Frau hatte ich mehr Rechte hier als die meisten PalästinenserInnen, die in diesem Land seit Hunderten von Jahren leben.
Vom ersten Tag an wurde ich immer wieder mit den Herausforderungen des Besatzungs-Alltags konfrontiert: Die SchülerInnen hatten ein starkes Bedürfnis, ihre Erfahrungen, Sorgen, Meinungen und Träume mit mir zu teilen. PalästinenserInnen kämpfen für eine gerechte Darstellung des Konflikts in den Medien, und das tägliche Leben in den besetzten Gebieten ist geprägt von ständigen Ohnmachts-Erfahrungen. Dörfer, die besetzt, und Häuser, die zerstört werden, ständig wachsende Flüchtlingslager, Familienmitglieder, die willkürlich in Verwaltungshaft genommen werden, eine ständige Demütigung an den Kontrollpunkten und eine starke Einschränkung der Bewegungsfreiheit.
Als TrainerInnen der Zirkusschule verbrachten wir viel Zeit im Transit zwischen Dörfern und Flüchtlingslagern, wo wir Zirkus-Unterricht gaben. Dies ist oft prekär, da ständig Kontrollpunkte passiert werden müssen und Straßen häufig durch Militäreinsätze blockiert werden.
Am 14. Dezember 2015 wurde Mohammad Faisal Abu Sakha, einer der leitenden TrainerInnen der Schule, von den israelischen Streitkräften festgenommen. Der 24-jährige Mohammad ist Clown und unterrichtete an der Zirkusschule vor allem Kinder mit Lernschwächen.
Er wurde zunächst zu einer sechsmonatigen "Verwaltungshaft" verurteilt, welche im Juni 2016 um weitere sechs Monate verlängert wurde. Die sogenannte „Verwaltungshaft“ erlaubt es den israelischen Behörden, Menschen auf unbestimmte Zeit ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festzunehmen. Nach internationalem Recht ist ihre Verwendung nur unter außergewöhnlichen Umständen und unter strengen Schutzmaßnahmen gestattet, in der Praxis werden aber bereits tausende Menschen, darunter auch Kinder, von den israelischen Behörden in Verwaltungshaft gehalten. Diese Praxis wurde mehrfach vom UN-Menschenrechtsbüro und dem UN-Menschenrechtsausschuss verurteilt und auch Amnesty International führt den Fall Abu Sakha als Beispiel für den willkürlichen und repressiven Gebrauch von Verwaltungshaft durch die israelische Besatzungsmacht an. Es gibt eine laufende Kampagne für seine Freilassung, bisher jedoch ohne Erfolg.
Die fortwährende Inhaftierung von Abu Sakha ist nur ein Beispiel für die ständigen Hindernisse, mit denen sich das Schulteam täglich konfrontiert sieht. Dennoch wird die wichtige soziale Zirkus-Arbeit so regelmäßig und weitgreifend wie möglich fortgesetzt.
Als Trainerin war mein Ansatz zunächst sehr einfach; Ich wollte das Ausdruckspotenzial der SchülerInnen durch das Training von Zirkusdisziplinen und von einigen Tanztechniken erweitern. In diesem sehr einfachen Rahmen realisierte ich jedoch schnell etwas sehr Wertvolles, etwas, dass ich in den letzten Jahren während meines eigenen „Eintauchens“ in eine stark Technik-fokussierte Welt der Zirkuskunst vermisste: Ich realisierte, wie wichtig es ist, die Zirkustechnik mit etwas Tieferem zu verbinden, mit etwas Persönlichem, etwas Ehrlichem und Einzigartigem.
Vieles was ich lehre leitet sich aus der Technik des "Partnering" und der "Kontaktimprovisation" ab. Ich führte diese Techniken zunächst nur sehr vorsichtig in den Unterricht ein; aus religiösen Gründen ist körperlicher Kontakt hier oft ein heikles Thema und es wird häufig auf eine geschlechtsspezifische Trennung bestanden.
Nach einiger Zeit - und besonders während der Arbeit mit den lokalen TrainerInnen der Schule, welche bereits seit einigen Jahren Zirkus praktizierten – bekamen diese Techniken für mich jedoch eine neue Bedeutung: Ich realisierte zunehmend, wie sehr politische Realitäten sich in unsere Körper und in unsere unbewussten Reaktionen und Tendenzen einschreiben. Die politische Umgebung des Widerstands gegen die Besatzung schafft Körper, die stark, anpassungsfähig und furchtlos sind. Körper, die eine stürmische Energie halten, Körper in einem konstanten Zustand des Widerstands.
Die SchülerInnen verfügten über eine ungewöhnliche Ausdrucksstärke und eine drängende Präsenz, die bei jeder Vorstellung oder Improvisation zum Vorschein kam. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, wie schwierig es für viele war „loszulassen“ oder sich in der Kontaktimprovisation körperlich „auszuliefern“.
Diese Erfahrungen erlaubten mir die komplexe Wechselbeziehung zwischen dem Makrokosmos der gesellschaftspolitischen Realität des Lebens unter Okkupation und dem Mikrokosmos des Körpers und seiner Sprache besser zu verstehen.
Meine Erfahrungen in Palästina waren Ausgangspunkt wichtiger Fragestellungen, welche auch heute noch meine künstlerische Praxis und Forschung prägen. Mein Interesse gilt der Wechselwirkung zwischen Körper, Geist und Umwelt. Zentral ist dabei für mich die Frage, inwieweit Bewegungspraktiken dazu beitragen können, eine nachhaltigere Beziehung zu uns selbst, dem „Anderen“ und der Welt herzustellen. Ich sehe Bewegungspraktiken als Praktiken der Selbst- und Sozialbeobachtung - und damit potentiell als politische Werkzeuge.
Durch Bewegung verkörpern wir unseren Geist - denn wir sind politische Körper!
Ana Jordão ist eine multidisziplinäre Künstlerin, die sich mit den Bereichen Zeitgenössischer Zirkus, Tanz und Improvisation praktisch und theoretisch auseinandersetzt.
Übersetztung aus dem Englischen: Elena Lydia Kreusch
Fotos: © Ana Jordão und Ameen Saeb
www.anajordao.com
www.palcircus.ps
Petition: https://goo.gl/kGqmYR