Studie zur Kulturpolitik für ländliche Räume in Deutschland
Auslösendes Moment war ein gewisses Unwohlsein, dass über ländliche Räume oft vereinfachend, verallgemeinernd gesprochen wird – und nicht selten unter dem Label "strukturschwach". In einer groß angelegten Studie untersucht die Kulturpolitische Gesellschaft e.V. nun Zugänge, Strategien und Förderprogramme für Kultur in ländlichen Räumen in Deutschland. Die daraus gewonnen Erkenntnissen sollen zur programmatischen und praktischen Weiterentwicklung von Förderpolitiken beitragen. Ein Gespräch mit Studienautorin Christine Wingert zu den (Zwischen-)Ergebnissen.
IG Kultur–
Warum eine Studie zur Kulturpolitik für ländliche Räume?
Christine Wingert– Das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft ist in Kulturentwicklungsprozesse und die Erarbeitung von Kulturberichten von Bundesländern involviert. Dabei ist deutlich geworden, dass über ländliche Räume häufig etwas undifferenziert gesprochen und geschrieben wird. Daher befassen wir uns mit der kulturpolitischen Perspektive der Bundesländer auf ihre ländlichen Räume. Die Heterogenität ländlicher Räume, aber auch die Schwierigkeit, damit kulturpolitisch umzugehen – vor allem auf der relativ hohen Ebene der Bundesländer, die einen großen Raum abdecken –, wollen wir näher beleuchten.
Wie haben Sie für die Studie „ländlicher Raum“ definiert?
Christine Wingert– Für unsere Studie haben wir keine Definition von ländlichen Räumen. Wir wollen erforschen, wie die Länderpolitiken ländliche Räume verstehen, auf welche ländlichen Räume in kulturpolitischen Dokumenten und Förderprogrammen Bezug genommen wird, auf welchem Verständnis von Ländlichkeit das basiert. Dazu braucht man einen sehr offenen Begriff.
Raumtheoretisch gehen wir davon aus, dass Ländlichkeit eine kulturelle Kategorie ist, quasi ein diskursives Phänomen. Das Verständnis davon, was ländlich ist, ist immer auch eine Frage der Aushandlung, wie darüber gesprochen wird. Ganz einfaches Beispiel: Manchmal werden Kleinstädte als ländlich bezeichnet. Aber die Menschen, die dort leben, sagen: Nein, ich lebe nicht in der Provinz, natürlich wohne ich in der Stadt.
Wir gehen auch davon aus, dass die Hard Facts in ländlichen Räumen – also wie ländliche Räume tatsächlich gestaltet sind – Ergebnis von gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen bzw. der Verkettung verschiedener Entscheidungen über die Jahrhunderte ist, beispielsweise in Bezug auf die Ansiedlungspolitik, Entscheidungen wirtschaftlicher Art, den Wohnungsbau, die Infrastrukturausstattung etc. Es ist wichtig, sich das bewusst zu machen und nicht so zu tun, als sei alles naturgegeben.
Welche Daten gibt es für informierte Politikentscheidungen dazu in Deutschland?
Christine Wingert– In der Kulturforschung gibt es im Prinzip zwei Stränge, die statistische und die qualitative Forschung. Die statistisch-quantitative Forschung ist meistens spartenbezogen. Vielfach wird das durch Verbände geleistet – sei es Theater, Musikschulen etc. –, die ihre eigenen Datenerhebungen haben. Die qualitative Forschung ist meistens auf bestimmte Regionen, oftmals kleinräumig, bezogen. Da gibt es das Problem der Übertragbarkeit auf andere Regionen bzw. Sparten. Und wir haben das Problem, dass die Studien unterschiedliche Raumkategorien, also Definitionen ländlicher Räume verwenden. Aus einer großräumigen Perspektive, wie die der Länder, liegen somit kaum generalisierbare Ergebnisse über die Lage der Kultur in ländlichen Räumen vor, die als Grundlage für politische Entscheidungen dienen können.
Haben Sie Gemeinsamkeiten von kulturpolitischer Relevanz identifizieren können, die typisch für ländliche Räume sind?
Christine Wingert– In der Zeit, als die Überzeugung reifte, diese Studie zu machen, war es noch stärker so, dass ländliche Räume generell als strukturschwach bezeichnet wurden. Ländliche Räume sind teilweise sehr strukturschwach. Aber es gibt auch prosperierende ländliche Räume, wo Zuzüge zu verzeichnen sind, wo die sogenannten „Hidden Champions“ im Wirtschaftsbereich tätig sind, die Arbeitsplätze bieten und Innovation vorantreiben. Genau das ist der Ausgangspunkt der Studie: Über ländliche Räume wird in einer gewissen Weise gesprochen und es werden Politiken erarbeitet, die häufig nicht ausreichend differenziert sind.
Gemeinsamkeiten sind die allgemeinen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse. Ein zentrales Thema ist der demografische Wandel, der sich auf Besucher- und Nutzer*innen-Zahlen auswirkt. Die Kulturnutzung, die Kulturinteressen verändern sich. Dann die Digitalisierung, die Veränderung der Kommunikation in der Arbeit wie in der Freizeit – also dem Freizeitverhalten und den Zugängen zu Kultur.
Der große Unterschied zwischen Akteur*innen in ländlichen Räumen und in Städten ist im Prinzip eine Frage der Ressourcen.
Das ist zwar in Städten auch der Fall. Der große Unterschied zwischen Akteur*innen in ländlichen Räumen und in Städten ist im Prinzip eine Frage der Ressourcen. Wenn ländliche Regionen schlechter ausgestattet sind, sowohl finanziell, infrastrukturell als auch personell, dann ist es schwieriger mit solchen Herausforderungen umzugehen. Insofern haben Kulturschaffende die gleichen Probleme, aber andere Voraussetzungen, um diese Probleme zu lösen.
Ein gemeinsames Thema ist zum Beispiel die Engagement-Förderung. Es gibt den einfachen, attraktiven Satz: In ländlichen Räumen ist Kultur ehrenamtlich getragen. Ja, das ist sie. In den Städten ist Kultur auch ehrenamtlich, zivilgesellschaftlich getragen. Da so einen krassen Gegensatz aufzumachen – städtischer Raum professionell, ländlicher Raum ehrenamtlich und nicht professionell – das ist sehr undifferenziert. Auch in den ländlichsten Räumen arbeiten Profis! Es ist oft unterbelichtet, dass sich auch in der Kulturarbeit auf dem Land Menschen abkämpfen – mit hohem Know-how, hoher Fachlichkeit und großem, professionellem Engagement. Das fehlt im Engagement-Diskurs. Ich möchte herausarbeiten, inwiefern die Fokussierung auf Ehrenamt zum Teil auch zu einer Verengung von kulturpolitischen Strategien führt.
Ein weiteres Thema sind Orte: Haben wir Kulturorte in ländlichen Räumen? Auch das ist sehr verschieden in den Regionen. Es stimmt schon, manche Orte verschwinden und das passiert vielleicht auch in den Städten. Man muss aber auch sehen, dass es gesellschaftliche Gründe dafür gibt. Teilweise verschwinden auch einfach die Kulturformen und damit ihre Orte. Aber es gibt offensichtlich ein großes Problem, dass in einigen sehr ländlichen Räumen die Orte fehlen, wo man sich treffen, wo man auch amateur-kulturelle Aktivitäten ausüben kann. Das hat aber auch mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu tun, nämlich der Durchkommerzialisierung von Räumen.
Das sind zwei Argumentationsstränge, die sehr sichtbar und virulent sind. Aber es gibt natürlich auch andere wichtige Themen, wie zum Beispiel die kommunale Kulturpolitik oder auch kommunale Finanzen. Wenn wir über strukturschwache, ländliche Räume reden, wo Ressourcen fehlen, dann fehlen sie auch definitiv für die Kultur.
Wie ist es um die Kulturpolitik auf kommunaler Ebene bestellt? Häufig entsteht der Eindruck, dass es stark personenabhängig ist...?
Christine Wingert– Wir haben keine empirische Untersuchung der kommunalen Ebene gemacht. Aber ich würde auch das strukturell begründen. Kulturpolitik ist ein Feld unter vielen anderen Politikfeldern. Wenn man ein*e Bürgermeister*in hat, die nicht kulturaffin ist, dann bildet das im Prinzip die Gesellschaft zu einem gewissen Teil ab. Kulturpolitisch kommt man allerdings nicht sehr viel weiter, wenn man sagt, das ist personenabhängig. Eine kulturpolitische Handhabe hat man nur in Bezug auf bestimmte strukturelle Faktoren. Wenn man in der Kommunalpolitik viele Menschen vorfindet, die das Innovative, das Widersprüchliche, das Widerspenstige in der Kultur und ihr Potential nicht wahrnehmen, ist das auch ein strukturelles Phänomen der Gesellschaft und Politik. Das hat auch sehr viel mit dem Kulturbegriff zu tun. Es ist ein dickes Brett. Außer immer wieder zu argumentieren und auch sichtbar zu machen, was man eigentlich tut und welche gesellschaftlichen Wirkungen das hat, geht es nicht. Und schon gar nicht von heute auf morgen.
Aber auch die kommunale Kulturpolitik ist sehr unterschiedlich. Es gibt sehr kleine Kommunen, die an der Spitze Menschen haben, die genau diesen Kulturbegriff haben und eine gewisse gesellschaftliche Relevanz für Kultur sehen. Die sind unglaublich aktiv und versuchen Orte zu schaffen und die Kulturschaffenden zu unterstützen, zu vernetzen.
Ein wichtiger Faktor ist hier das Interkommunale: Bin ich bereit, mit dem was ich tue, auf meine Nachbargemeinde zuzugehen oder ist da eine gewisse Tendenz, sich abzuschotten. Denn Kooperation kostet immer auch Ressourcen – Geld, Personal, Zeit. Das ist tatsächlich ein Handlungsfeld für die Länderpolitik: interkommunale Kooperationen und Kulturentwicklungsprozesse zu stärken, um auch mehr Bewegung rein zu bringen, das Bewusstsein für mögliche Synergien und den Gewinn einer Kooperation trotz ihrer Kosten zu stärken und die interkommunale Kooperation mit einem Förderprogramm zu unterstützen.
Gibt es Faktoren, Stellschrauben an denen gedreht werden kann bzw. sollte, um das Handlungsfeld Kunst und Kultur im ländlichen Raum zu stärken?
Christine Wingert– Das finde ich einen sehr wichtigen Punkt. Was mir zu Beginn der Studie so nicht bewusst war: Die Stellschrauben liegen zum großen Teil außerhalb des Kultursektors und der Kulturpolitik.
Eine Stellschraube ist der Länderfinanzausgleich. Das große Problem in einigen Bundesländern ist, dass nur wenige Ressourcen zu verteilen sind. Wenn das Steueraufkommen nicht entsprechend ist, dann trifft das auch die Kommunen und damit auch die Kultur. Das sind fiskalpolitische, haushaltsrechtliche Fragen. Ich möchte sie nicht vertiefen, aber man muss den Finger in die Wunde legen. Hier ist vieles für den Kulturbereich begründet.
Es ist nicht damit getan, noch mehr Projektförderung für Kultur zu haben, sondern es sind grundlegende strukturelle Fragen.
Ein weiterer Punkt ist die Verkehrspolitik. Wenn bestimmte Orte nicht zu erreichen sind – bei einer unserer Diskussionen wurde das so wunderbar beschrieben: „Da weiß nicht mal das Navi, wo ich hinfahre“ – und schon gar nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sind, dann ist es mit einer stärkeren Besucher*innen-orientierung allein nicht getan. Diese Probleme sind allein kulturpolitisch nicht zu lösen. Hier geht es um den Erhalt der kulturellen Infrastruktur. Es ist nicht damit getan, noch mehr Projektförderung für Kultur zu haben, sondern es sind grundlegende strukturelle Fragen.
Stichwort Förderung: Wie ist es um die Förderung zeitgenössischer Kunst und Kultur am Land bestellt?
Christine Wingert– Schauen wir auf die Förderung künstlerisch-kultureller Produktion und den Erhalt der kulturellen Infrastruktur. Hier ist ein Dauerbrenner in der kulturpolitischen Debatte die Frage nach mehr institutioneller Förderung einerseits oder mehr Projektförderung andererseits. Für die institutionelle Förderung gilt oftmals das sogenannte Omnibus-Prinzip: „Einer muss raus, bevor ein anderer rein kann.“ Das ist aber nicht in allen Bundesländern in Deutschland gleich. Das ist ein Beispiel für die strukturelle Ungleichheit zwischen den Regionen und Ländern und deren Finanzausstattung.
Zugleich muss weiter darüber nachgedacht werden, wie Projektförderungen ausgestaltet sind. Es ist das alte Problem: Wie bekommt man mehr Verlässlichkeit, dass gute Projekte sich nicht immer wieder neu erfinden müssen? Das ist das eine. Das andere ist die Frage der Förderlogik: Projektförderung ist immer ein Wettbewerb. Aber im Wettbewerb gewinnt der Stärkere. Wenn wir Kultur in strukturschwachen ländlichen Regionen fördern wollen, dann ist das schwierig. Es führt dazu, dass jene gestärkt werden, bei denen man sieht: Oh ja, das wird was! Kulturakteure in ländlichen Räumen, die tatsächlich nicht so gut aufgestellt sind, haben größere Probleme, öffentliche Mittel zu akquirieren. Dem Anspruch von Förderprogrammen, die Kultur in strukturschwachen, ländlichen Regionen fördern sollen, steht die Wettbewerbslogik entgegen.
Welches sind die größten Herausforderungen in der Studienerstellung?
Christine Wingert– Die größte Herausforderung ist tatsächlich die Weite des Themas. Der Auslöser für die Studie war ja ein gewisses Unwohlsein, dass über ländliche Räume meistens vereinfachend, verallgemeinernd gesprochen wurde. Diese Differenzierungen kulturpolitisch handhabbar zu machen, ist nicht einfach. Dabei geht es nicht nur um die Heterogenität der ländlichen Räume, sondern auch um disparate Kulturbegriffe. Diese beiden Fragen sind ja hier miteinander verknüpft: Über welche ländlichen Räume reden wir und über welche Kultur? Was zählt dazu, wofür fühlen sich die jeweiligen Politikfelder überhaupt verantwortlich? Denn wir betrachten auch die Politikfelder „Raumordnung“ und „Entwicklung ländlicher Räume“, die sich aus ihren Perspektiven auch mit Kulturentwicklung befassen. Da gibt es große Unterschiede zwischen den Politikfeldern und zwischen den Ländern. Diese Weite der begrifflich-konzeptionellen Vielfalt und damit auch der Vielfalt der Ansprüche sowohl in Bezug auf die ländlichen Räume als auch in Bezug auf die Kultur ist eine Herausforderung.
Wenn man Kultur in bestimmten Regionen stärken möchte, damit sie einen Beitrag zur gesellschaftlichen und regionalen Entwicklung leistet, dann muss die Region auch für Kulturschaffende attraktiv sein!
… und die spannendsten Erkenntnisse?
Christine Wingert– Eine der spannendsten Erkenntnisse finde ich, auch wenn das vielleicht trivial ist: Es ist unglaublich vielfältig, es passiert kulturell unglaublich viel in ländlichen Kommunen und Regionen. Das wird meiner Meinung nach unterschätzt. Es gibt aber eben auch viele gute Ansätze der Förderung von Kultur in ländlichen Räumen, sowohl auf kommunaler und regionaler Ebene als auch von Seiten der Landesregierungen, die kaum wahrgenommen werden.
Die andere Erkenntnis ist, dass vieles außerhalb des Kulturbereichs liegt und andere Politikfelder betrifft. Es ist ein spannender Perspektivenwechsel zu fragen: Was interessiert die Raumordnung eigentlich in Bezug auf Kultur? Welchen Kulturbegriff hat das Landwirtschaftsministerium, bei dem die Entwicklung ländlicher Räume in der Regel angesiedelt ist? Welche Vorstellungen von Kultur, die gefördert werden soll, herrschen da vor? Von großer Bedeutung ist LEADER, insbesondere als Förderinstrument für den Erhalt und die Ertüchtigung von ländlichen Kulturorten. Stärker in den Blick nehmen sollten Kulturpolitik und Kulturakteure aber auch LEADER als Netzwerk. Hier könnten sich Kulturschaffende, die in ländlichen Regionen etwas bewegen wollen, stärker einbringen.
Im Moment, so habe ich den Eindruck, wird von Seiten der Kulturförderer stark so argumentiert: Was kann Kultur für die regionale Entwicklung tun? Das ist eine wichtige Perspektive. Aber wenn man Kultur in bestimmten Regionen stärken möchte, damit sie einen Beitrag zur gesellschaftlichen und regionalen Entwicklung leistet, dann muss die Region auch so attraktiv sein, dass Künstler*innen dort leben und arbeiten können und wollen. Eine Region muss auch für Kulturschaffende attraktiv sein!
Der Bericht zur Studie „Kulturpolitik und Kulturförderung für ländliche Räume“ wird Ende 2023 vorliegen. Weitere Informationen unter www.kupoge.de. Die Studie wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.
Christine Wingert ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. und forscht zum Thema Kulturpolitik für ländliche Räume.
Dieser Artikel ist erstmals in gekürzter Fassung in der Ausgabe 1.23 „LAND KULTUR ARBEIT“ des Magazins der IG Kultur Österreich – Zentralorgan für Kulturpolitik und Propaganda erschienen.
Das Magazin kann unter @email (5 €) bestellt werden.
Coverbild: Landschaftstheater im Hildesheimer Land, aus dem Stück "Auf eigene Faust", September 2020 © Julia Moras, Forum Heersum e.V.