GESPENSTER/GE/SCHICHTEN

Eine Karte als post/koloniales Archiv

Das Verhältnis zum kolonialen Faktum ist dabei fragmentarischer und latenter Art, keine abgeschlossene Historie, sondern eine stellenweise vielleicht lebendige Geschichte, welche Gegenwart prägt und formt.“ (1)

Das Grab eines bayerischen Kultusministers, eine für München typische Bronzearbeit, eine nach einem Zoologen benannte Straße, die Büste eines Botanikers, ein Maibaum mit einer Gedenktafel sowie eine altehrwürdige Akademie: Was für eine Aufzählung soll das sein? Wie könnte sie weitergeführt werden? Orte in München: In welcher Beziehung stehen sie zueinander? Gibt es eine Verbindung? Welche Geschichten erzählen sie, welche Geschichten verbergen sie?

Der Alte Südliche Friedhof ist ein Ort, der die Spuren der Münchner Vergangenheit ebenso verbirgt wie offenlegt. Im älteren Teil des Friedhofes, am Brunnen, wo an lauen Sommerabenden Kinder spielen und Spaziergängerinnen Ruhe vom hektischen Treiben der Stadt suchen, findet sich das Grab des ehemaligen Kultusministers Dr. Ludwig August von Müller, geb. am 19. August 1846, gest. am 24. März 1895. Keine Spur findet sich an diesem Ort, die an die beiden Kinder erinnert, welche hier 1821/1822 beerdigt worden waren. Juri und Miranha wurden sie genannt, die von den beiden Forschern Carl Friedrich Philipp von Martius (1794 – 1868) und Johann Baptist Ritter von Spix (1781 – 1826) während einer Forschungsreise in Brasilien verschleppt und nach München gebracht worden waren. „Der Heimat entrückt, fanden sie Sorgfalt und Liebe im fernen Welttheile, jedoch unerbittlich des Nordens rauher Winter“, lautet die Inschrift der Grabplatte, die sich nicht mehr am Alten Südfriedhof befindet. Stattdessen hängt sie in der Ausstellung „Typisch München“ im Münchner Stadtmuseum – in der Abteilung Erzgießerei als frühe Arbeit des bedeutenden Erzgießers Johann Baptist Stiglmaier.

Eine post/koloniale Spurensuche

Als die Gruppe [muc] münchen postkolonial vor etwa sieben Jahren anfing, nach post/kolonialen Spuren in München zu suchen, wussten wir nichts über die Geschichte der beiden Kinder. Wir haben nach Einschreibungen in der Stadt gesucht, nach Denkmälern, Gräbern und Straßennamen, nach Institutionen und historischen Ereignissen. Gefunden haben wir zunächst Bruchstücke, Spuren, deren Sinn sich uns bisweilen versperrte, Geschichten, deren Fäden wir weiterverfolgen wollten. Eine Fülle an ungeordnetem Material, das wir selbst kaum überblicken konnten.

Im Botanischen Garten stießen wir auf eine Büste des Botanikers Carl Friedrich Philipp von Martius, am Alten Südlichen Friedhof in München auf sein Grab, das Grab seines Forscherkollegen Johann Baptist Ritter von Spix und bei weiteren Nachforschungen (in Büchern, auf Wikipedia und in den Aufzeichnungen von Martius in der Bayerischen Staatsbibliothek) auf eine denkwürdige Expedition nach Brasilien. Im Auftrag seiner Majestät Maximilian Joseph I. von Bayern waren die beiden Forscher am 6. Februar 1817 nach Brasilien aufgebrochen. Dort sollten sie für die Bayerische Akademie der Wissenschaften möglichst alles, was ihnen begegnete, sammeln, erfassen, vermessen, kategorisieren und katalogisieren. Dieser Auftrag beschränkte sich nicht auf die Botanik und Zoologie, sondern bezog sich auch auf die Mineralogie und die Physik, die Topografie und Geografie sowie auf die Menschen, die ihnen während der Reise begegnen sollten, auf deren Lebensumstände und -weisen, deren Sprache, Geschichte und Kultur.

Die Ausbeute der Reise, die sie bei ihrer Rückkehr 1820 nach München brachten, war – nach den Aufzeichnungen von Martius – beachtlich: 90 konservierte Säugetiere, 350 Vögel, 130 Amphibien, 120 Fische, 2.700 Insekten und 6.500 Pflanzenarten sowie zahlreiche ethnografische Objekte und Kulturgüter. Von den acht Kindern, welche sie ebenfalls zu ihrer Sammlung zählten, waren vier während der Reise gestorben, zwei hatten die Forscher unterwegs verschenkt. Die beiden Kinder, im Alter von etwa 10 bis 14 Jahren, die lebend in München ankamen, wurden auf die Namen Johannes und Isabella getauft. Die tatsächlichen Namen der Kinder sind nicht bekannt. Juri und Miranha, wie sie heute meist genannt werden, sind nicht ihre Namen, sondern bezeichnen lediglich ihre Herkunft. Nach ihrer Ankunft in München wurden sie der Schaulust der Bevölkerung ausgesetzt, gezeichnet, vermessen und wissenschaftlich untersucht. Sie überlebten den Aufenthalt in München nur wenige Monate. Juri starb im Juni 1821, Miranha im Mai 1822. Sie wurden am Alten Südlichen Friedhof in München beerdigt, ihr Grab jedoch Ende des 19. Jahrhunderts aufgelassen und die Grabstelle dem bereits genannten bayerischen Kultusminister überlassen.

Verblassen

Je mehr wir uns mit der Geschichte von Martius, Spix, Juri und Miranha beschäftigten, desto dichter verteilten sich die Spuren zu dieser Erzählung über die Stadt. In Obergiesing ehrt eine Straße den Zoologen Spix, in Schwabing eine weitere Herrn Martius. Ihre mitgebrachten Tiere, Pflanzen und ethnografischen Objekte lagern in der Zoologischen Staatssammlung und im Staatlichen Museum für Völkerkunde. Es gibt eine Gedenktafel für Martius an dessen ehemaligem Wohnhaus und eine Ritter-von-Spix-Medaille. Und unweit des fehlenden Grabes von Juri und Miranha befinden sich die noch heute gut erhaltenen und gepflegten Gräber von Martius und Spix. Die Geschichte der beiden Kinder verblasst vor der Erinnerung an die beiden hochgeschätzten Forscher. Eingang ins Stadtmuseum fand sie mehr zufällig über die Erzgießerei. Nur am rosa Maibaum der lesbisch-schwulen Community im Glockenbachviertel erinnert eine Tafel an das Schicksal der Kinder – nicht zufällig und nebenbei, sondern von einer Künstlerin, Mirtha Monge, auf Initiative des Nord Süd Forums München gestaltet.

Die Geschichte von Juri und Miranha ist nur eine von vielen post/kolonialen Erzählungen, deren Spuren sich wie ein Netz über die Stadt legen. Die Vielzahl an kolonialen Ablagerungen und Spuren, die sich auch heute noch im Münchner Stadtraum finden, macht die historische und gegenwärtige Präsenz post/kolonialer Realitäten deutlich. Gleichzeitig verweisen diese Ablagerungen auf eine Reihe von Orten und Leerstellen, deren kolonialer Bezug sich heute nicht mehr oder nur sehr vermittelt erschließt. Diese Unsichtbarkeiten erzählen oft mehr über den gegenwärtigen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit als das vermeintlich Offensichtliche. Ihrer Geschichte nachzugehen, sie zu befragen nach den historischen Kontexten ihres Entstehens und Verblassens, verändert den Blick auf die Stadt und lenkt ihn auf eine oft verschwiegene Gewalt, die sie repräsentieren.

Die Kontingenz der Karte

Die Bewegung dieses Blicks auf die Stadt verfolgt das Projekt mapping.postkolonial.net. Es verzeichnet Spuren an den entsprechenden Orten der Stadt, verknüpft sie zu Erzählungen und fragt nach den bewussten und unbewussten Schichten, die sich in den post/kolonialen Geschichten der Stadt zeigen und verbergen. Aus diesem Zusammenspiel entsteht eine post/koloniale Karte von München, die als Archiv die historischen Spuren und Erzählungen mit gegenwärtigen Fragen und Perspektiven verbindet. mapping.postkolonial.net ist damit eine Karte, die gleichermaßen versucht, das Archiv als Ort der Wissensproduktion sichtbar zu machen und dabei die Kontingenz des Vergangenen im Gegenwärtigen zu thematisieren.

Im Text Die Unwahrnehmbarkeit der Erinnerung schreibt Brigitta Kuster: „Diese explizite Kontingenz verlangt nach einem situierten Wissen, welches das vergangene Geschehen bearbeitet und dabei nicht nur den Inhalt berücksichtigt, sondern auch die Produktion kolonialer Quellen und die Rolle, welche diese Quellen für historiographische Operationen oder für Vorgänge der Erinnerung spielen.“ (2) Ein solches Vorgehen bedeutet, die Eindimensionalität, Zufälligkeit und Brutalität der kolonialen Wissensproduktion in den Blick zu nehmen, die noch heute die Art und Weise, wie Wissen erzeugt, verwaltet und verbreitet wird, prägt, und sie mit widerständigen und dekolonisierenden Wissensprozessen zu provinzialisieren.

Wie aber lassen sich Un/Möglichkeiten des Sagbaren archivieren/kartieren, wenn es keine Quellen gibt von denjenigen, die nicht mehr sprechen können, von denen keine Schriften und Tagebücher in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt werden, deren Gedanken und Gefühle wir kaum erahnen können? Die Geschichte von Juri und Miranha kennen wir nur aus alten Zeitungsartikeln und den Aufzeichnungen von Martius. Es gibt nichts, was aus der Perspektive der Kinder überliefert worden ist. Eine post/koloniale Karte muss diese Leerstellen offenlegen. Das bedeutet, nach der Herkunft von Wissen und der Verstrickung von Wissenskomplexen und Machtverhältnissen zu fragen: Was ist dieses Wissen, auf das wir uns beziehen? Woher kommt es, wie ist es entstanden? Wem hören wir zu? Welche Positionen hören wir nicht? Wer ist wir?

Und die Gespenster? Als Schatten der kolonialen Vergangenheit spuken sie nach wie vor durch Köpfe und Gesellschaft und treiben ihr Unwesen im Archiv.

Anmerkungen

mapping.postkolonial.net: Spuren | Schichten | Gespenster. Ein Archiv und Bildungsprojekt von Eva Bahl, Simon Goeke, Zara S. Pfeiffer, Peter Spillmann, Michael Vögeli und Philip Zölls getragen von [muc] münchen postkolonial, Labor k3000, Ökumenisches Büro für Frieden und Gerechtigkeit e.V., gefördert von der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft, München, 2013. www.mapping.postkolonial.net

[muc] münchen postkolonial: www.muc.postkolonial.net

Fußnoten

(1) Kuster, Brigitta: Zur Unwahrnehmbarkeit der Erinnerung, eicpc 01/2012, www.eipcp.net/transversal/0112/kuster/de/#_ftnref25 [10.11.2013].

(2) Ebd.

Zara S. Pfeiffer ist Politikwissenschaftlerin, Autorin und Kuratorin. Sie lebt und arbeitet in München.

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