Rhizomatic Circus. Ein Interview.
Redaktion: Bitte stellt euch als Gruppe vor: Wer ihr seid, wie ihr euch zusammengefunden habt und wie ihr euch organisiert.
Der Verein „Rhizomatic Circus“ ist ein lebendiges Wurzelwerk an KünstlerInnen, ArtistInnen und MusikerInnen, die ihrer Fantasie frei und wild folgen und diese im zirzensischen Genre performativ übersetzen. Wir sind etwa 30 KünstlerInnen aus den verschiedensten Disziplinen (Zeitgenössischer Tanz, Jonglage, Akrobatik, Videokunst, Musik, Literatur, Schauspiel und Bildende Kunst). Das entstandene Menschengeflecht lebt und gestaltet ihre Welt mit den unterschiedlichsten Visionen zu Zirkus, Kunst und Gemeinschaft.
Anfangs stand der Wunsch, unseren artistischen Tätigkeiten, und der daraus entstandenen Gemeinschaft, mehr Platz einzuräumen. Im Frühling 2016 entwickelte sich ein KünstlerInnenkollektiv und im Herbst folgte die Gründung des Vereins „Rhizomatic Circus“. Viele der Beteiligten kannten sich zu diesem Zeitpunkt aus regelmäßigen Trainings und Workshops rund um die Gruppe „Zirkus Giovanni“. Aber auch viele neue Gesichter schlossen sich dem Kollektiv an; vor allem Freunde, Verwandte und Bekannte, die sich von der Begeisterung für das Projekt anstecken ließen.
Es war auch von Anfang an ein Grundprinzip der Gruppe, dass alle Interessierten, unabhängig von ihren Hintergründen und Erfahrungen, zur Partizipation eingeladen waren. Außerdem war es allen wichtig, die Organisation, sowie die Entscheidungsprozesse, nicht hierarchisch, sondern gemeinschaftlich zu gestalten. Eine solidarische Zusammenarbeit, Selbstorganisation und variierende Rollen sind maßgeblich für eine rhizomatische Arbeitsweise.
Redaktion: Könnt ihr ein bisschen über euer erstes großes Aufführungsprojekt erzählen?
Rhizomatic Circus war die Geburt einer neuen Idee. Wir wollten die Sichtbarkeit von „Neuem Zirkus“ als zeitgenössisches, kulturelles sowie zeitkritisches Ausdrucksmittel erhöhen. Vor allem wünschten wir uns mehr Raum, um unsere Ideen und Kreationen durch intensive Zusammenarbeit gemeinsam weiterzuentwickeln. Es sollte ein gemeinschaftlich organisiertes Projekt werden, in welchem, soweit es organisatorisch möglich ist, alle artistischen Träume verwirklicht werden können.
Das Ergebnis war eine Show mit 30 beteiligten KünstlerInnen, die am 23. und 24. September 2016 die 800m2 große Fabrikhalle des „F23.wirfabriken“ in Liesing mit ihren Darbietungen bespielten. Besonders war u.a. auch die Raumnutzung. Es gab nicht nur eine Hauptbühne, sondern der gesamte Raum wurde mit abwechselnden Schauplätzen inszeniert. Die Show war eine abwechslungsreiche Reise durch die Erzählweisen der einzelnen KünstlerInnen. Das Spektrum reichte von Partner- und Luftakrobatik, experimentellen-zeitgenössischen Tanz, Clownerie, Schauspiel bis hin zu Jonglage, Slacklineperformance und Objektmanipulation. Auch eine Kapelle (MusikarbeiterInnenkapelle) beehrte uns mit ihren fidelen Stücken. Diese brach mit ihrer räumlichen Flexibilität (Flash-Mob, Märsche) den Performanceraum zu seiner vollen Größe auf. Alle Stücke wurden außerdem mit Live-Musik (Eigenkompositionen der MusikerInnen) begleitet.
Zirkus soll nicht nur leichtfüßig und leichtverdaulich unterhalten, sondern kritisch und provokant sein und neue Perspektiven anbieten.
Redaktion: Was bedeutet Zirkus für euch und wie kam es dazu, dass ihr den Zirkus gewählt habt, um dieses politische Projekt zu starten?
Der zeitgenössische Zirkus hebt sich deutlich vom klassisch traditionellen Zirkus ab. Es gibt keine Tierdressuren und Zurschaustellung von Menschen mit abweichender Optik von „Normalität“. Zirkus bedeutet für mich Integration, Entdeckung des eigenen Potentials, Verwandlung, Abwechslung, Freiheit. Zirkus bedeutet sehr vieles.
Vor allem geht es uns um Inklusion. Platz hat, was Platz haben will. Es geht darum, einen Rahmen für kreativ-schaffende Menschen zu bieten, der dann von jeder/m Einzelnen, nach eigenem Ermessen, und verantwortungsvoll sich selbst und der Gruppe gegenüber, gestaltet wird. Dadurch wird Zirkus zur persönlichen Herausforderung für alle, die sich tiefergehend auf das Experiment einlassen. In der Zirkusgemeinschaft wird bereits ein kleines gesellschaftliches System gelebt, das alternativ zu anderen Systemen denkt und handelt. Verantwortung übernehmen, Vertrauen schenken und wertschätzend jeden Schritt gemeinsam gehen, sind Grundhaltungen, die unserem Tun sein Gepräge geben. Und wenn etwas nicht funktioniert, versuchen wir es noch einmal.
Der Zusammenschluss von vielen unterschiedlichen Menschen ist ein großartiges Lernfeld. Wir waren eine riesige Gruppe und es war ein Drahtseilakt, alle Bedürfnisse zusammenzubringen. Aber genau das war wichtig: Den Menschen und ihren Ideen Raum zu geben. Einen Raum zum Träumen anzubieten und nicht gleich Nein zu sagen. Und das Ergebnis war unglaublich. Es war eine sehr lange, inspirierende und vor allem menschliche Show. Sie war nicht perfekt.
Redaktion: Welche Pläne habt ihr für die Zukunft?
Wir werden das Rhizom weiter wild wachsen lassen, damit KünstlerInnen der verschiedensten Expressionsformen sich vernetzen und eigenartige, verrückte, wunderschöne Zirkusgewächse in die Welt werfen können. Sie sollen betroffen machen und zum Nachdenken und Handeln anregen. Zirkus soll nicht nur leichtfüßig und leichtverdaulich unterhalten, sondern kritisch und provokant sein und neue Perspektiven anbieten.
Im nächsten Projekt „amorph“ betreten wir den Raum zwischen Furcht und Faszination. Es geht um das Fremde und das Eigene. Und eine mögliche Verwandlung, die durch Grenzerfahrungen passieren kann. Der eigene Körper als performativer Raum für Verfremdung, Verzerrung und Ausdruck geistiger Transformation spielt dabei eine wichtige Rolle. Dort, wo sich bekannte Formen auflösen und in neue gegossen werden, wohnt die Fantasie und unser Traum von Zirkus.
AutorInnen:
Petra Maria Ganglbauer studierte an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz. Sie ist als freischaffende Tänzerin und Musikerin tätig und war eine der MitinitiatorInnen des „Rhizomatic Circus“.
Tamara Vobruba ist Diplom Ingenieurin in Technischer Mathematik und seit Jahren begeisterte Akrobatin. Sie übernahm die kaufmännische Leitung des Projekts.
Fotos: ©Maximilian Rosenberger