10 Jahre Brunnenpassage - Kunst wirkt!
Die künstlerische Leiterin Anne Wiederhold-Daryanavard zieht in ihrer Rede anlässlich des Jubiläums ein Resümee und gibt einen Ausblick auf die Zukunft.
Identifikation, Irritation, Innovation
Als ich im März 2007 zum ersten mal in dieser Markthalle stand, waren hier an der Stelle noch die Kühlregale aufgebaut. Die Markthalle war in Orange gestrichen, Betonboden.
Die Festwochen haben dann Tanzboden ausgerollt, Royston Maldoom hat mit 80 Menschen vom Markt getanzt, so ging alles los. Pilotprojekt zunächst mal für ein Jahr befristet. Seid ihr ein Fitnesstudio? Kann ich hier meine Verlobungsfeier machen?
10 Jahre später hat sich viel getan, wir sind zu einer Institution geworden, zu einem Gegenüber für viele Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung, für Vereine, den Bezirk, die Marktstandler*innen und für Kooperationspartner renommierter Kulturhäuser, für nationale Entscheidungsträger und internationale Netzwerke. Über 4000 Veranstaltungen haben wir hier und wienweit umgesetzt. Unzählige wunderbare Erlebnisse. Viele Fehler haben wir gemacht, viel gelernt, neu ausprobiert, verändert, resümiert.
Resümee ziehen will ich heute auch an dieser Stelle. Jedoch nicht nur in Bezug auf unsere eigene Arbeit, sondern vielmehr zur Situation, in der wir alle uns befinden. Welche Verantwortung wir als Künstler*innen heutzutage tragen, was wir tun können bzw. was Kunst heutzutage kann:
Was sind die großen Themen der Menschheit?
Klimawandel
Flucht
Angst
Gewalt
Spaltung der Gesellschaft
Und auch Aufbruch, neu denken, abdriften, wegbeamen, transformieren. Wo in all dem bin ich als Künstlerin, als Kunstschaffende?
Diversität ist eigentlich überall auf der Welt Realität. das ist natürlich auch nicht einfach. Das ist für viele immer noch irritierend, neu, ungewohnt. Menschen, auch ich selbst, brauchen gesellschaftliche Räume, sich anzunähern, sich zu trauen sich kennen zu lernen. miteinander gut zusammen zu leben, braucht Zeit und Fokus. Es ist heutzutage leicht möglich mehr Freunde auf facebook zu haben sowieso, aber auch mehr Zeit mit „freund*innen“ auf Instagram zu verbringen, als im realen Leben.
Wie können sich Menschen, wie kann ich mich bei all der Ablenkung und Infoflut sammeln, finden, mich selbst spüren?
Kunst kann das. Kunst kann ein Tool sein, dass Menschen ihre individuelle, einzigartige Identität wieder finden und ausdrücken. Ihre Stimme erheben. Frei und unabhängig von marktwirtschaftlichen Kriterien, Moden, Populismus und Werbung.
Die aktive Partizipation an Kunst, schafft auch eine neue Rezeption ebendieser. Das verändert den Blick auf die Welt.
Kunst kann ein Weg sein für gesellschaftlichen Wandel, für progressive Stadtentwicklung, für Annäherungen zwischen Menschen.
„Ich habe hier gelernt, dass man seinen Traum leben soll und mit Freunden Musik machen kann.“ Karina, ein Mädchen bei einem Kindermusikprojekt
„Ich fühle mich hier wohl. Dieser Ort macht aus mir den, der ich jetzt bin.“ Hamayun Mohammed Eisa, Schauspieler und Mitwirkender, Zielgruppenarbeiter der Brunnenpassage
„Die Projekte haben mein ganzes Leben verändert. Ich habe mich als Mensch verändert, meine komplette Einstellung, ich bin aufgeblüht“, Petra Grosinic, DJn* Kollektiv Brunnhilde
Nicht dass wir das von Beginn an erwartet hatten. Der Ort hat sich dort hin entwickelt. Durch Mitwirken und Hilfe vieler. Transkultur braucht einen langen Atem, braucht Jahre, sich zu entfalten
Türkische ältere Männer, die seit 40 Jahren hier leben und mit Tränen in den Augen im Sing Along, dem gemeinsamen Singen mit dem Wiener Konzerthaus mit 300 Menschen zusammen türkische Lieder singen und sagen, dass sie diese Lieder seit Jahrzehnten nicht gesungen haben und schon gar nicht mit Österreicher*innen gemeinsam...
Wenn ein Mädchen beim slowenischen Kindertheaterstück die Mutter fragt, „Mama sind wir gerade in Slowenien“?
All das erleben wir hier seit 10 Jahren.
Natürlich erleben wir auch Momente des Konflikts, der Zerwürfnisse, der Vorurteile und der Angst eineinander zu begegnen. Aber genau hier beginnt die Arbeit erst. Einen Raum zu schaffen, wo Vorurteile besprochen und Konflikte ausdiskutiert werden können. Ja die Arbeit hört nicht auf. Wir können nicht sagen, jetzt wissen wir, wie man Zugang schafft zu Kultur. Schon, wissen wir, aber die Zeit verändert sich ja. Hass, antimuslimischer Rassismus, Gentrifizierung, Razzien, ... ein dezentraler Kunstort heißt auch, beweglich zu sein. Kurzfristig Veranstaltungen in den Spielplan aufzunehmen. Heißt auch Anlaufstelle zu sein für ganz andere Themen. Warum wurden die Bänke am Brunnen entfernt? Könnt ihr Kinderkleidung sammeln? Ich fahre nächste Woche wieder nach Hause nach Bulgarien und meine Frau braucht Kleidung für den Winter. Ich habe Zahnschmerzen, aber keine Ecard. Ja es vermischen sich Themenbereiche. Es ist ja auch ein Querschnittsfeld, ein ArtSocialSpace. Wir leiten viele Menschen an die Kolleg*innen in der Caritas weiter, schreiben Teilnahme-Bestätigungen für Geflüchtete fürs Asylverfahren. Beraten Künstler*innen, wie sie Anträge stellen können auch mit wenig Deutschkenntnissen, vermitteln jede Woche Interessierten postmigrantische Künstler*innen mit speziellen Sprachkenntnissen und Instrumenten...
Wir hier in der Brunnenpassage haben von Beginn an Kunst als Chance verstanden. Dezentrale Kunstorte sind Impulsgeber für progressive Stadtentwicklung. Unser erklärtes Ziel ist die Förderung des sozialen Zusammenhalts auf der lokalen Ebene und die Wohnbevölkerung in der gesamten Diversität ist die Zielgruppe der Arbeit.
Wie wirkt Kunst?
Da wäre zunächst die individuelle Ebene zu nennen.
Kunstwerke bringen uns zum Denken, unsere Emotionen zum klingen, Kunst macht glücklich, lässt erkennen und inspiriert.
Das aktive Mitwirken an künstlerischen Prozessen ermöglicht vielen Menschen die Chance, sich neu zu erleben und neue gesellschaftliche Positionen zu erlangen. Besucher*innen können hier abseits von diskriminierenden Alltagserfahrungen und Zuschreibungen teilnehmen, ohne das Thema Herkunft ständig zu thematisieren. Die Teilnehmer*innen haben die Möglichkeit, sich nicht nur über Sprache, sondern auch über unterschiedliche künstlerische Mittel auszudrücken und auf der Bühne zu stehen. Diese Erfahrung wirkt sich sehr positiv auf die individuelle Persönlichkeit aus.
Ich habe Mädchen erlebt, die zum ersten mal in ihrem Leben ein Mikrophon in der Hand hatten und das dann gar nicht mehr hergeben wollen. Für viele Menschen ist die Brunnenpassage, so haben es mir immer wieder Künstler*innen und Besucher*innen gesagt, ein Schutzraum, ein Wohnzimmer und eine Tür zur gesellschaftlichen Teilhabe.
Wie sieht es auf der gesellschaftlich kollektiven Ebene aus?
Nachhaltige Wirkung im Stadtviertel entsteht über Jahre. Menschen aus der Nachbarschaft lernen sich durch den täglich geöffneten Kunstort kennen. Die Begegnung zwischen den unterschiedlichen Besucher*innen wird als Bereicherung erlebbar und wirkt sich positiv auf das Gemeinwohl aus. Die Möglichkeit zur Partizipation erlaubt Menschen ein gezieltes Gestalten der eigenen Lebensrealität und eröffnet ein Selbstverständnis als Definierende statt Definierte.
Was erzielen wir jetzt genau mit den Strategische Partnerschaften?
Durch drei-jährige Partnerschaften der Brunnenpassage mit etablierten Kulturinstitutionen in der Wiener Innenstadt möchte die Brunnenpassage ab heute Teilhabe und Umverteilung auch über die unmittelbare lokale Ebene hinaus umsetzen.
„Das Feigenblatt ist das Blatt der Feigen“ so Joachim Ringelnatz.
Die Strategischen Partnerschaften mit dem Wiener Konzerthaus, dem Weltmuseum Wien und der Offenen Burg des Burgtheater verlaufen auf Augenhöhe, nachhaltig, ab von Einzelevents, die gut in der Presse verkaufbar sind. Es geht nicht um das heranführen von Menschen an eine bestehende Leitkultur. Es geht auch nicht darum die Hochburgen der Kultur zurückzubauen. Es geht darum, diese weiter zu entwickeln, zu transformieren, neu zu verbinden mit der Stadt . Brücken zu bauen. Unser doppelter Kooperationsansatz, vernetzt auf der lokalen Ebene und in Partnerschaften mit der Innenstadt läßt neue städtische Synapsen wachsen.
Es geht auch darum, die Kunst selbst wieder zu befreien. Der Kunstbetrieb ist durch und durch kommerzialisiert. Reichweite, Zuschauerzahlen, Eintrittspreise, Verkaufspreise. Selbst in der freien Szene beginnt Zensur oft im eigenen Kopf. Das wird so nie gefördert! Statt, was will ich sagen? Wie kann ich zu diesem Thema des Calls etwas einreichen?
Hier arbeiten wir in einem nicht kommerziellen Ort. Das ist wunderbar.
Die Notwendigkeit eines Umdenkens im Kunst- und Kulturbetrieb ist offenkundig. Alle zahlen Steuern. die öffentlich geförderten „Hochkultur“betriebe werden jedoch nur von einem Bruchteil der Bevölkerung besucht. Die großen Institutionen sind gefordert, sich transkulturelle Konzepte anzueignen und diese umzusetzen. Es ist viel zu kurz gegriffen rein auf der Publikumsebene zu agieren. Das Hinterfragen der eigenen Praxis auch hinsichtlich der Produktion, der Diversität des Personals und neuer Ansätze in der Programmierung, stellen wesentliche Elemente einer transkulturellen Öffnung dar.
Ich persönlich komme ja aus einer Musikerfamilie, mein Vater hat als Cellist in verschiedenen Orchestern gespielt, unter anderem in Bayreuth. Dort muss man 8 Jahre auf ein Ticket warten. Ich komme also aus der „hochkulturellsten Ecke“ überhaupt. Wir sind letztes Jahr angefragt worden von einer großen Wiener Kulturinstitution, zu kooperieren. Diese Institution verfügt über 108 Mio. Euro Jahresbudget. Die 25.000 Euro, die für das gemeinsame Projekt in Aussicht gestellt wurden, waren dann doch zuviel. Die Kooperation kam aus finanziellen Gründen nicht zustande. Es ist ein weiter Weg.
Was sonst noch:
Wenn mein Sohn, so wie unzählige andere mehrsprachig aufwachsende Kinder, persische und deutsche Kinderlieder lernt und in Österreich lebt, dann hat sich das immaterielle Kulturgut bereits transformiert.
Am Wochenende war ein Kollege aus Istanbul zu Gast, dort wurde letzte Woche Volkstanz-Unterricht in den Schulen verboten. Die Rede ist von Volkstanz.- Wir müssen wachsam sein und solidarisch.
Zum Geburtstag darf man sich was wünschen:
Ich wünsche mir...
Freiheit für Künstler*innen, die zensuriert oder bedroht werden
Förderkriterien für Diversität
Vernetzung der Expert*innen
nachhaltige Öffnungen der großen Häuser
Frieden zu leben. jeden Tag, vor Ort, im eigenen täglichen Tun.
bei all dem Hass - wir brauchen Orte der Solidarität
bei all der Angst - wir brauchen Orte des Ankommens
bei all dem Konsum - wir brauchen Orte der Nicht-Kommerzialität
bei all dem Entertainment - wir brauchen Orte des Mitwirkens
Orte des Umdenkens
Orte der Befreiung
Ich wünsche mir viel mehr Orte wie diesen hier
ich verneige mich vor meinem Team,
Danke