Erinnerungskultur und Theater Biographien des Erinnerns
In meiner Muttersprache, dem Slowenischen, gibt es das Wort „Gedächtnis“ nicht. Es ist immer das Wort „spomin“, das Erinnerung bedeutet. Will ich mir etwas merken, es „im Gedächtnis“ behalten, muss ich mich zeitgleich daran erinnern können. Ein Paradoxon, würde man meinen. Nebbich. Das Merken setzt Erinnerung voraus, Erinnerung wiederum Erlebtes. Vorhanden bleibt, woran man sich erinnert und woran erinnert wird. Gedenken, feierliches Begehen, sind ebenso Erinnerung wie alles Bleibende und alles das, was in jedem Augenblick im Menschen da ist. In der slowenischen Sprache ist das so.
Die deutsche Sprache, sagt Ruth Klüger, war ihre Überlebensstrategie. „In Auschwitz bin ich Appell gestanden. Mit Gedichten konnte ich stundenlang in der Sonne Appell stehen und nicht umfallen, weil es immer eine Zeile zum Aufsagen gab. Verse, indem sie die Zeit einteilen“, schreibt Ruth Klüger, „sind, im wörtlichen Sinne, ein Zeitvertreib. Ist die Zeit schlimm, dann kann man nichts besser mit ihr tun, als sie zu vertreiben.“1 Also memoriert sie, um nicht verrückt zu werden, Gedichte. Hölderlin, Schiller, Eichendorff. Versucht sie im Gedächtnis zu behalten, um nicht umzufallen, aber auch um Zeugin dieser von Vernichtung, Deportation und Rassismus geprägten Zeit werden zu können. Später. Ihre Sprache ist die deutsche, wiewohl sie auch die der Nazis ist. Sei’s drum. Die Weigerung Ruth Klügers, die deutsche Sprache den Tätern zu überlassen, bescherte uns den wohl eindringlichsten Text über eine jüdische Kindheit in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten.
Und dennoch betont sie immer wieder, nicht aus Auschwitz, sondern aus Wien zu kommen. „Man hört es, an der Sprache. Wien ist Teil meiner Hirnstruktur und spricht aus mir, während Auschwitz der abwegigste Ort war, den ich je betrat und die Erinnerung daran bleibt ein Fremdkörper in meiner Seele. Auschwitz war nur ein grässlicher Zufall.“2
Diesen „grässlichen Zufall“ hat Ruth Klüger überlebt und erin-
nert daran, dass es trotz allem, trotz des Happyends, keinen Grund zur Freude gibt. Mehr noch. Sie will uns davon abhalten,
uns zu freuen. Die Frage, wie wir uns heute an den Holocaust, an
die Verbrechen gegen die Menschlichkeit erinnern wollen, knallt sie uns an den Kopf, vor den sie uns gleichzeitig stößt. (Wir sollen keine allzu gute Zeit haben).
Geschichtsschreibung ist geprägt von gesellschaftlichen hegemonialen Diskursen. Am Beispiel Österreich äußert sich dies an der lang vertretenen offiziellen Darstellung des Opfermythos, demzufolge Österreich das erste Opfer des nationalsozialistischen Terrors war, die vielen gefallenen Soldaten, die wahren Opfer des Krieges. Eine Täterperspektive. Ihnen zu Ehren die vielen, übers ganze Land verteilten Kriegsdenkmäler. Ein nicht enden wollendes Opferepos, opulent inszeniert. Erinnerungskultur sollte diesen hegemonialen Diskurs brechen können.
Als ich vor mehr als 14 Jahren in Wien Ruth Klügers Erinnerungen „weiter leben – eine Jugend“ inszenierte, konnte ich zweierlei Dinge nicht wissen. Die Dauer der Aufführungszeit – wir spielen die Vorstellung bis heute – und die Reaktion eines jungen afghanischen Flüchtlings auf diese. Das „Nicht-schon-wieder“ war zu erwarten, kam auch. Überrascht nicht wirklich. Ist es doch einer seltsam gewordenen Form des Diktates der Aufarbeitung geschuldet: Übersättigung und Verdrängung in einem. Trotzdem. Ich erinnere mich an Vorstellungen, bei der die meist sehr junge Zuschauer_innen nicht applaudierten, weil sie es für unangebracht hielten. Minutenlanger Applaus bei anderen Vorstellungen. Eine Schülerin, 16 Jahre vielleicht, begründete dies so: „Noch nie hat mich ein Theaterstück, das so gar keinen unterhaltenden Charakter hat, so fasziniert.“ Unerwartet, aber nicht wirklich überraschend.
Theater ist dann gut, wenn es Teil der eigenen Biografie wird. Yussufs Biografie ist unglaublich, weil sie für so ein junges Leben unpassend erscheint. Vieles, wovon im Stück erzählt wird, passt in seine Biografie, war sein Erlebtes, ist sein Alltag: Verfolgung, Ablehnung, jahrelange Flucht, Misstrauen, Rassismus. In Afghanistan, in Österreich. Doch die Theatervorstellung, sagt er, das intensive Spiel der Schauspielerinnen, die Biografie dieser jüdischen Frau, ihr ungebrochener Lebenswille, das alles zusammen, sagt er, geben ihm Kraft selber weiter zu leben. – Wir müssen unsere Erinnerung auf die Gegenwart beziehen, meint Ruth Klüger. Mit der Vergegenwärtigung der Geschichte beschäftigte sich Giulio Camilo bereits im frühen 16. Jahrhundert. Der Bologneser Gelehrte entwarf das Modell eines Theaters, das er „Theater der Erinnerung“ nannte. Die Größe und der Perspektivenwechsel waren das Besondere dieses Theaters für zwei Zuschauer_innen. Von der Bühne aus betrachteten die Besucher_innen den Theaterraum, in dem Allegorien über alles Wissen so greifbar nahe ausgestellt waren, dass sie leicht einzuprägen waren und nicht in Vergessenheit geraten konnten. Theater als Hort des kollektiven Gedächtnisses.
Hans Krasas Kinderoper Brundibar hätte nach der Uraufführung 1942 in einem jüdischen Waisenhaus in Prag noch 30 Mal gespielt werden sollen. Dazu kam es nicht. Die Nazis waren schneller. Der Komponist Krasa, der Librettist Adolf Hoffmann, die Kinder, die Betreuer_innen, sie alle wurden nach Theresienstadt deportiert. Wie so viele andere. Auch Greta Klingsberg. Ein Volksschulmädchen aus der Leopoldstadt. Gern gesungen hat sie, sagt Greta Klingsberg, immer schon gern gesungen, auch in Theresienstadt. „Es tat dann weniger weh“, sagt die Zeitzeugin. Brundibar wurde in Theresienstadt über 30 Mal aufgeführt. Immer heimlich, immer in wechselnder Besetzung. Greta Klingsberg sang, so oft es ging, die weibliche Hauptrolle. 67 Jahre nach der Uraufführung, wurde die Oper in Wien aufgeführt, im Beisein der aus Israel angereisten Greta Klingsberg. Ein Mädchen, acht Jahre vielleicht, stellte ihr die Frage, ob sie denn noch einen großen Wunsch hätte und ob sie, dieses Mädchen, ihr, der 80-Jährigen, diesen Wunsch erfüllen könne. Greta Klingsberg meinte, nach kurzem Nachdenken, sie hätte so gerne einen weißen Flieder. Unsere Geschichten, meint Ruth Klüger, dürfen nicht auf Märtyrer-Sagen verengt werden.
Erinnerungskultur, die allein die Vergangenheit beleuchtet und keine Verbindung zum Heute hat, scheitert an ihrem bereits feststellbaren inflationären Charakter. Eine seltsame Überidentifizierung mit den Opfern des Nationalsozialismus3 ist ebenso Konsequenz einer verdrängenden, oberflächlichen Aufarbeitung des Geschehenen wie Desinteresse und Abstumpfung.
Die Buchstaben NN trugen im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof bestimmte Häftlinge auf ihrem Rücken. Bei Nacht und Nebel, so die Bedeutung, konnten diese Häftlinge jederzeit und bei Auftreten von Nacht und Nebel erschossen werden. Wer kein NN auf seinem Rücken tragen musste, blieb vor Tod und Ermordung dennoch nicht verschont. Gerade noch mit dem Leben davon gekommen war Boris Pahor. Zuerst überstand der Schriftsteller aus Triest den nationalistischen Terror der italienischen Faschisten. Pahor muss zusehen, wie italienische Faschisten einen befreundeten Musiker, Triestiner Slowene wie er, nötigten, Motoröl zu trinken. Langsam zuerst, jeden Tropfen qualvoll schluckend, dann immer schneller, so lange, bis nichts mehr zu hören war. Kein Ton. Nichts mehr. Die totale Zerstörung der Stimmbänder. Die Redewendung „die Stimme abgeben“ hat für Boris Pahor daher bis heute einen merkwürdigen Klang. Und ausgerechnet ihn schleppten die Nazis mit dem Buchstaben „I“ für Italiener, durch die Konzentrationslager. Dachau, Dora-Mittelbau, Bergen-Belsen, Natzweiler-Struthof.
Der ausgemergelte, nach Luft schnappende tschechische Junge, der „seine Lippen nur von Zeit zu Zeit ein klein wenig bewegte, wie ein auf dem Trockenen liegender Fisch, für den das Meer jede Bedeutung verloren hatte“4, war Pahors erste Leiche, die er auf die anderen nackten, toten Körper werfen musste. In seinem herausragenden autobiographischen Roman „Nekropola“, ein Buch, das unbedingt geschrieben werden musste, schildert Pahor präzise und eindringlich den Alltag in diesen Lagern. Die (Un-)Möglichkeit des Überlebens in der Welt „der totalen Negation“ wird irgendwann auf die Frage des Hungers und seiner Überwindung zurück geworfen. „Ich glaube, dass kaum jemand versteht, was das heißt: nur noch aus Hunger zu bestehen, nur noch an den Magen zu denken, nur noch Magen zu sein. Das ist die physische und moralische Zerstörung des Menschen“.6 Tief ins Gedächtnis gerückte Bilder, die Pahor zeitlebens nicht wieder los wird. Anklagend und fordernd ist seine Literatur. Literatur, die Geschehenes unverrückbar ins Gedächtnis, in den „spomin“ einprägt und zeitgleich das Nachdenken über Gegenwärtiges einfordert. Erinnerungskultur, die darauf abzielt, wird ein ehrliches Nachdenken über den Holocaust evozieren und eine unumgängliche Tiefsinnigkeit in die Debatte einbringen. Literatur und Theater vermögen das.
„Jetzt, nachdem ich die Inszenierung meines Buches auf der Bühne gesehen habe, hat es sich gelohnt, weiter gelebt zu haben“, bemerkte Ruth Klüger unsentimental nach der Theatervorstellung.
1 Ruth Klüger in: weiter leben-eine Jugend. Wallsteinverlag. Göttingen 1992.
2 ebd.
3 „You know, I love the holocaust“, bekam Ruth Klüger nach einer Veranstaltung von einer Frau zu hören,
die auf diese Weise ihre Anteilnahme zum Ausdruck bringen wollte.
4 Boris Pahor: Nekropola, S. 68.
5 ebd.
6 Paul Jandl im Gespräch mit Boris Pahor, in: Kunst und Architektur.