Lebenslänglich verlernen
Im Sinne einer auch zu übenden Selbstkritik kann es nicht schaden, über das lebenslange Verlernen nachzudenken, im Anbetracht der nachhaltigen Schäden, die einem das Bildungssystem Schule beibringen kann.
Ich weiß, es sollte kein einfacher „Ich-bin-immer-für-das-Gegenteil-Reflex“ sein, schon gar nicht, wenn ich alternative Lernarten – insbesondere in Kollektiven – schätze. Aber im Sinne einer auch zu übenden Selbstkritik kann es nicht schaden, über das lebenslange Verlernen nachzudenken, im Anbetracht der nachhaltigen Schäden, die einem das Bildungssystem Schule beibringen kann. Und ich bin mir bewusst, dass ich wahrscheinlich noch ein einfaches Leben in der Kreisky-Ära hatte: Es gab immer Gutscheine für jede Menge Gratisschulbücher zu Jahresbeginn und für mein junges queeres Leben gab es nicht die zeitgenössischen Quälereien mit überschwänglichen Rosa-Glitzer-Kleider-Spaghettiträger-Ausstattungen. Der Konkurrenzdruck hielt sich in Grenzen und ich konnte schon mal schlechte Semesternoten nach Hause bringen, ohne dass ein Geschwader von NachhilfelehrerInnen auf mich angesetzt wurde. Trotzdem reichte es, mir lebenslänglich die Mathematik zu vergraulen: Mein erster Lehrer schlug die Kinder regelmäßig, warf ihnen diese Riesenzirkel in unfreundlicher Weise zu und hob die Kinder an den Ohren an, um sie mit ihren Köpfen dann gegen die Schultafel zu klopfen, auf der eine scheinbar unlösbare Aufgabe gekritzelt war.
Beim Übergang in die Hauptschule hatte ich in den ersten Monaten ein paar mathematische Erfolge zu verbuchen, weil wir in der Volksschule schon etwas mehr gemacht hatten, um dann wieder heftig abzubauen. Dem Lehrer ist nicht viel vorzuwerfen, außer dass er pädagogisch keinen Mehrwert zu verbuchen hatte. Bei ihm gab es keine Schläge, dafür jede Menge Straf-Turmrechnen und viel Lärm in der Unterrichtsstunde. Damals habe ich aufgehört, Hausaufgaben zu machen.
Als Mädchen war es aber nicht weiter auffällig schlecht in Mathematik zu sein, es schien alles in die geschlechterspezifische Ordnung zu passen. Das etwas nicht stimmen konnte, wurde mir erst in der Oberstufe bewusst: Wiederum wurden wir mit einer Lehrerin bedacht, die nichts erklärte und die die Aufmerksamkeit all jener SchülerInnen verloren hatte, die nicht über ein fundiertes Grundwissen verfügten. Erstaunlich war aber, dass die meisten SchülerInnen bei einem Lehrer maturierten, der Biologie und Chemie unterrichtete. Zugegeben, er kam des Öfteren mit einer Fahne zum Unterricht und wir waren alt genug seinen Zynismus auf die leichte Schulter zu nehmen, aber ich hatte kein Problem, Aminsosäureketten aufzuzeichnen und chemische Reaktionen zu rechnen. Selbst Herleitungen von Formeln, die sich über die aufgeklappte Schultafel erstreckten, waren kein Problem. Irgendwann wusste ich, dass die Knoten in meinem Hirn vor einer mathematischen Aufgabe nicht von meiner „Natur“ als Mädchen stammen können.
Mittlerweile sitzt meine Nichte am liebsten vor ihren Mathematik-Hausaufgaben, trägt dabei alles was rosa und mit Strass bestückt ist und macht sich Sorgen, ob sie mit ihren Serien-Einsern gut genug ist. Sie ist herrlich begabt und motiviert, aber auch schon gestresst, als würde sich jederzeit ihr Leben entscheiden. Nun ja, sie ist neun und da müssen ja diverse gravierende Entscheidungen getroffen werden, da es immer noch nicht möglich ist, Kinder länger als bis zum zehnten Lebensjahr gemeinsam zu unterrichten. Es bekommt jede Generation, wie es scheint, ihre jeweiligen Rucksäcke aufgeladen, sei es Angst vor Mathematik oder Angst vor allgemeinem Versagen. Rucksäcke, deren Inhalte jede dann lebenslang verlernen kann.