Nora Sternfeld: Das pädagogische Unverhältnis
Dieses Buch bietet Lernenden wie Lehrenden einen differenzierten Blick, weniger auf die aktuell beschworene Chancengleichheit, die Sternfeld als Ablenkung „von der Realität gesellschaftlicher Ungleichheit“ problematisiert, als vielmehr auf die in Anlehnung an Foucault gestellte Forderung, „nicht dermaßen regiert zu werden“ – weder durch Bildung noch durch deren Ökonomisierung.
Pädagogik: mehr ein Unwort, denn ein Unverhältnis? War einst der LehrerInnenberuf ein Aushängeschild gesellschaftlicher Etablierung, wird heute in der Bildungsgesellschaft alles und nichts pädagogisiert. Der LehrerInnenberuf ist längst out, wie Nora Sternfeld in dem jüngst von ihr erschienen Band „Das pädagogische Unverhältnis“ nebenbei bemerkt. Begriffe wie Pädagogik, Erziehung, Bildung, Kultur- und Kunstvermittlung (*) werden im allgemeinen Ruf nach lebenslangem Lernen nivelliert statt differenziert. Sternfeld hat mit diesem Buch einen wichtigen Beitrag geleistet, der sich in die Tradition einer politischen Pädagogik stellt. Damit folgt sie weniger der Erziehungswissenschaft als Handlungswissenschaft, vielmehr der Pädagogik im klassischen Sinne einer Anleitung zur Philosophie. So zeichnet sich dieses Buch weniger durch seine Antworten auf mögliche Bildungsdebakel aus als durch seine Fragen. Ganz der Philosophie Michael Foucaults folgend werden naturalisierte Lehrverhältnisse und institutionalisierte Lernformen kritisiert, indem Fragen zu diesen Verhältnissen und Formen gestellt werden. Eine Differenzierung der Begriffe in ihrem politischen Gebrauch bleibt allerdings aus, bzw. findet sich nur in der Analyse des Gebrauchs Bildung seit der Deutschen Klassik.
Für eine poststrukturalistische Argumentation werden politische Philosophen mit ihren Theorien nutzbar gemacht und zugleich ihre Begrenztheit für den pädagogischen Diskurs herausgestellt: Jacques Rancière (*1940), Antonio Gramsci (*1891 †1937) und Michel Foucault (*1926 †1984). Beginnend mit Ranciers Rekurs auf Joseph Jactots Lehrmethode im Kontext der französischen Revolution und der Aufklärung werden die bildungstheoretischen Ansätze im Geiste des Humanismus mit Gramscis Hegemonietheorie gegengelesen und damit ganz im Zeichen des Klassenkampfes politisiert, um mit Foucaults Analyse von Macht und Disziplin zu antworten und am Ende die Möglichkeit einer anderen Pädagogik theoretisch anzureißen. Entlang von Begriffen wie Verdummung, Gleichheit, Stellungskrieg, Emanzipation, Selbstkonstruktion, Autonomie, Normierung oder Scheitern entfaltet sich ein philosophischer Komplex, den Sternfeld mit „Das pädagogische Unverhältnis“ betitelt. Ausgangspunkt ist die Unberechenbarkeit des Verhältnisses von Lehrenden und Lernenden, die jeder pädagogischen Situation vorausgeht. Im Bemühen, dieses Verhältnis zu bestimmen, zu regulieren und zu reformieren, werden die hegemonialen Implikationen in den Vorstellungen des Lernenden deutlich. Sternfeld fordert die Analyse der Lehrenden mit ein. Dort sieht sie den Handlungsraum für eine pädagogische Praxis und zur Emanzipation: „Ausgehend davon, dass es eine Alternative zu den zur Entscheidung stehenden Alternativen gibt, gilt es, sich für diese zu entscheiden, ohne sie bereits zu haben.“
Dieses Buch bietet Lernenden wie Lehrenden einen differenzierten Blick, weniger auf die aktuell beschworene Chancengleichheit, die Sternfeld als Ablenkung „von der Realität gesellschaftlicher Ungleichheit“ problematisiert, als vielmehr auf die in Anlehnung an Foucault gestellte Forderung, „nicht dermaßen regiert zu werden“ – weder durch Bildung noch durch deren Ökonomisierung.
(1) Seit mehr als einem Jahr lässt sich der exponentielle Anstieg von kuratorischen bzw. kunstvermittelnden Aufbaustudien im deutschsprachigen Raum beobachten. Waren die 1990er Jahre vom Kulturmanagement geprägt, wird in den 2000er Jahren nicht mehr gemanagt, sondern vermittelt.
Nora Sternfeld: Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault Wien: Turia + Kant 2008