Ästhetik als Prävention
Die Komplexität unserer Zeit konfrontiert uns mit einem neuen Bild der Welt. Alle Phänomene sind Ausdruck ein- und derselben Krise, die in erster Linie eine Krise der Wahrnehmung ist. Wahrnehmung im weitesten Sinn ist die Kernkompetenz künstlerischer Arbeit. In ihr manifestiert sich das Suchen nach Transformation.
Kunst im Horizont der Agenda 2030
Die Natur, lange als unerschöpflicher Fundus von Ressourcen angesehen, erweist sich heute als ein unterjochtes und erschöpftes Gebilde, das sich aufgrund menschlicher Eingriffe aufzulösen beginnt. Unsere Erde ist krank, durch uns. Nachdem der Mensch den Boden, die Meere und die Luft ausgebeutet hat, schielt er nun in den Weltraum und ebenso in die Tiefe.
Während früher Erdölreserven Begehrlichkeiten weckten, sind es heute das Grundwasser, die Geothermie und Edelmetalle. Damit verbunden sind neue Fragen: Wem gehört der Untergrund? Wem die Luft, und wem die Biodiversität? Kurzum: Wir stehen an einem kritischen Punkt der Erdgeschichte, an dem die Menschheit den Weg in ihre Zukunft wählen muss. Die bisher übliche Praxis der rationalen Plünderung unseres Planeten muss durch ein Ethos der globalen Protektion ersetzt werden.
Ein Ansatz dazu ist die UN-Agenda 2030 und die darin enthaltenen 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung. Sie ist ein Referenzrahmen, den sich die Staatengemeinschaft gesetzt hat, um die großen Herausforderungen dieser Welt anzugehen. Ihre Umsetzung verlangt ein neues Denken und Handeln, das mit Zuversicht die Chancen für eine zukunftsfähige Gesellschaft formuliert. Wir sind jedoch weit davon entfernt, die vorgegebenen Ziele zu erreichen, denn wir tun nicht, was wir wissen. Einerseits fehlt nach wie vor der politische Wille zu einem wirklich grundlegenden Paradigmenwechsel, andererseits besteht ein Missverständnis bezüglich des Begriffs „Nachhaltigkeit“ selbst. Das Regelwerk der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung basiert auf einem Drei-Dimensionen-Konzept mit den Schwerpunkten Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt. Ein fataler Trugschluss. Nicht nur, weil sich im Begriff „Umwelt“ eine anthropozentrische Sichtweise manifestiert, die eine Trennung zwischen Natur und Mensch macht und so quasi die Grundlage der globalen ökologischen Krise schafft (interessanter wäre der Begriff „Mitwelt“), sondern vor allem auch, weil in diesem Drei-Säulen-Modell die kulturelle Dimension ausgeschlossen ist. Die Gestaltungskompetenzen der Kultur und der Künste als Metaebene einer unabdingbaren Wertediskussion sind somit nicht Teil zukunftsgerichteter Verantwortungsstrategien. Ein folgeschwerer Irrtum, denn die Vision einer weltweit naturverträglichen Entwicklung darf keinesfalls auf rein technische Lösungen oder wirtschaftliche Interessen reduziert werden. Ein ökosozialer Umbau unserer Gesellschaft wird nicht gelingen, solange man auf ästhetische Strategien verzichtet, die eine andere Lebensweise und Welt vorstellbar und attraktiv machen. „Das größte Defizit der Nachhaltigkeitsszene ist ihre visionäre Obdachlosigkeit“, formuliert es der Soziologe Harald Welzer. Es fehlt ihr die Seele.
Mein Verständnis von nachhaltiger Entwicklung umfasst deshalb explizit auch die ästhetische Dimension. Nachhaltige Entwicklung ist eine kulturelle Herausforderung.
Die Komplexität unserer Zeit konfrontiert uns mit einem neuen Bild der Welt. Alle Phänomene sind Ausdruck ein- und derselben Krise, die in erster Linie eine Krise der Wahrnehmung ist. Wahrnehmung im weitesten Sinn ist die Kernkompetenz künstlerischer Arbeit. In ihr manifestiert sich das Suchen nach Transformation.
Was ist zu tun?
Mir persönlich scheinen folgende Wesensmerkmale zentral zu sein:
1. Das Prinzip des Dialogs
Unsere globalisierte Welt verträgt keine Abschottung mehr. Es braucht ein Bewusstsein der Allverbundenheit. Nur durch die Vernetzung verschiedener Kompetenzen entstehen zukunftsfähige Lösungen. Ich bin überzeugt, dass transdisziplinäre Projekte von Bedeutung sind und plädiere deshalb dafür, dass die Politik, die Behörden und die Wissenschaften uns Künstler*innen in die Debatte über eine zukunftsfähige Gesellschaft einbeziehen sollten. Als Botschafter*innen, als Berater*innen, als Verwaltungsrät*innen, als Querdenker*innen und nicht zu spät.
2. Das Prinzip der Solidarität
Es sind symbiotische Systeme, die wir jetzt brauchen. Die Symbiose ist ein in der Natur hochwirksames System von wechselseitiger Abhängigkeit mit existenzieller Wirkung. Flechten zum Beispiel, seit Jahren Inspiration meines künstlerischen Schaffens, sind ein perfekter sozialer Verbund. Nicht nur geprägt von Konkurrenz, sondern auch von Solidarität. Natur ist in der inneren Struktur sozial. Das gilt auch für die Kunst. Der herkömmlich tradierte Begriff der westlichen Leistungsgesellschaft ist dadurch bis zum Letzten in Frage gestellt. Kompetenzgerangel zum Beispiel, auch in den Künsten sehr ausgeprägt, ist bedeutungslos. Denn wer ständig darüber nachdenkt, wie er den anderen mit raffinierten Strategien übertrumpfen kann, verlernt die Fähigkeit der Empathie. Solidarität bedeutet Vertrauen in das Wir. Ich befürworte deshalb ein Ethos der gemeinsamen Zukunftsgestaltung. Es braucht eine systemische Sicht auf das Leben, die nicht mit den Kategorien Trennung und Polarisierung operiert.
3. Das Wissen über eine Ästhetik der Prävention
Was wir dringlich brauchen, ist eine neue Sensibilität. Sie beinhaltet Kenntnis der Verletzlichkeit und Teilhabe. „Ecological grieving“, ökologische Trauerarbeit, die mich seit meiner Kindheit aufgrund all der Zerstörungen der Mitwelt schmerzhaft begleitet hat, interessieren mich nicht mehr. Das Zeitalter der Reparatur, notwendig aufgrund technomorphen menschlichen Handelns, muss an sein Ende kommen. Symptombekämpfung reicht nicht mehr aus, was es jetzt braucht, sind Aspekte der Vorsorge, eine Ästhetik der Achtsamkeit. Resilienz, also die Fähigkeit, Störungen möglichst frühzeitig vorauszusehen, ist weiter zu stärken. Wir brauchen gerade jetzt eine Besinnung auf Möglichkeiten, die uns in der Prophylaxe stärken, denn Angst ist ein schlechter Ratgeber und vermindert unsere Gestaltungsfähigkeit.
Hier ist die Kunst von Relevanz. Sie kann heilende Wirkung entfalten. In Zeiten der Orientierungslosigkeit braucht es mehr denn je erweiterte Perspektiven: Langmut, Demut, Mut, Kenntnis über das Feinstoffliche.
Wie schafft man das? Ein Ansatz zumindest scheint mir plausibel: Die Zeit für Pessimismus ist vorbei. Die gegenwärtige multiple Krise unserer Zeit sollte als Chance zur Transformation genutzt werden, als Ansporn, die Bemühungen für zukunftsfähiges Leben auf der Erde voranzutreiben. Lasst uns heute gemeinsam für die Welt von morgen handeln. Wenn uns wichtig ist, was für eine Welt wir kommenden Generationen hinterlassen, so sind wir jetzt aufgefordert, dezidiert zu handeln. Wir sind gezwungen, den politischen und persönlichen Willen über alle Grenzen hinaus wachzurütteln.
Damit die Kurskorrektur gelingt, benötigen wir eine „Symbiose der Verantwortlichkeit“. Ja, ich würde noch weiter gehen: Eine zukunftsfähige Gesellschaft kann nur verwirklicht werden, wenn die Ethik darin eine entscheidende Rolle spielt. Es gibt Werte, die nicht in ökonomische Einheiten überführbar sind: Die bildende Kunst, die Musik, die Poesie, das Theater, die Philosophie. Vor allem aber: Eine zukunftsfähige Gesellschaft kann nur verwirklicht werden, wenn die Trennung von „Kultur“ hier und „Natur“ dort endlich überwunden wird. Die Gegenüberstellung von Natur und Kultur ist ein Konstrukt unserer Zivilisation. Es geht letztlich um das Bewusstsein, unser „gemeinsames Haus“ (Franz von Assisi), unsere Mutter Erde, zu schützen, zu ehren und der zynischen Vernunft unserer Zeit Kreativität entgegenzusetzen. Das scheint mir heute angesichts der Eskalation von struktureller Gewalt mit politischen und wirtschaftlichen Komponenten von dringlicher gesellschaftlicher Relevanz. Als Künstler kann und will ich nicht mehr länger auf strategisches Geplänkel und populistische Versprechen der Politik und der Wirtschaft vertrauen. Es gibt eine moralische Pflicht der Kunst, auch die gesellschaftliche Dimension mitzudenken. Verantwortung ist nicht mehr delegierbar. Es braucht nachhaltige Beiträge eines jeden Einzelnen. Die Antwort liegt in uns selbst. Let’s walk the talk.
George Steinmann ist bildender Künstler, Musiker und Forscher. Seine künstlerische Praxis beinhaltet Recherchen zur kulturellen Dimension der Agenda 2030, zum Klimawandel sowie zur Ökologie von Wald und Wasser.