ChewiNations
Während der Theaterterminus „Chewing the Scenery“ die Aufmerksamkeit ursprünglich auf das Bühnengeschehen lenkt, verschieben die beiden künstlerischen Arbeiten der Ausstellung wie auch viele der Publikationsbeiträge den Fokus auf das Publikum.
Chewing the Scenery ist der Titel des von Andrea Thal im Schweizer Off-Pavillon der Biennale in Venedig kuratierten Ausstellungsprogramms. Sie verknüpft unter diesem Titel zwei künstlerische Arbeiten, die vier Monate lang im/am Teatro Fondamenta Nuove zu sehen sind, zwei punktuelle Veranstaltungsreihen, in denen Vorträge, Konzerte, Performances und Filmvorführungen stattfinden, sowie eine sich dynamisch verändernde Publikation. „Chewing the Scenery“, ein Begriff aus der Theatersprache, der unter anderem ein exzessives, spektakelartiges Geschehen auf der Bühne bezeichnet, das das dominante Narrativ des Stückes in den Hintergrund treten lässt, erfährt durch Thals kuratorisches Konzept eine konkrete Umsetzung: Nahezu 50 Menschen bringen ihre künstlerischen, gestalterischen, reflektierenden und aktivistischen Praxen zusammen, sodass unerwartete Begegnungen und Konstellationen entstehen sowie vertraute Wissens- und Verstehensroutinen erschüttert werden.
Doch was ist das dominante Narrativ des Stückes, das, so die hoffnungsvolle These, in den Hintergrund tritt? IllumiNations lautet das Motto der diesjährigen Biennale. Bruchlos werden in dieser Begriffsschöpfung Enlightenment und Nation einander zur Seite gestellt. Das Lichte, Strahlende, Glänzende tritt hervor; die gewaltvollen Dimensionen der Nation, die nicht selten im Namen der Aufklärung auftreten, werden getilgt. Bice Curiger, ebenfalls aus der Schweiz und künstlerische Direktorin der Biennale, wäre, wie sie in einem Interview (NZZ, 8. Mai 2011) betont, durchaus zufrieden, wenn die von ihr ausgestellte Kunst beglückt und ein wenig Erkenntnis beschert. Zum Nationenbegriff fällt ihr ein, dass es bei diesem doch immer auch um „gemeinschaftliches Zusammenleben und um Utopien, die damit verbunden sind“, geht. Der Journalist fühlt sich an dieser Stelle berufen, ein Statement zum „Rollback nationalistischer Diskurse“ nachzufordern. Dieses wird von Curiger nicht etwa mit einem Hinweis auf die Schweizer Ausschaffungsinitiative beantwortet, sondern auf Länder, „die man auf der Seite von Human Rights Watch findet“ – implizierend, dass dies auf die Schweiz nicht zutreffe (womit sie wohlgemerkt falsch liegt). Deutlich wird an diesen Äußerungen wie an der Begriffsschöpfung selbst, dass das vertraute Narrativ, das Erleuchtung und Nation verknüpft, mit einer okzidentalen Überlegenheitsphantasie einhergeht.
Dementsprechend besingt der eidgenössische Bundesrat Didier Burkhalter in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung im Teatro die Freiheit der Kunst und verordnet ihr zugleich, die ihr zugedachten staatlichen Mittel zu nutzen, um Kritik zu leisten. Rubia Salgado antwortet auf dieses Dilemma in ihrem Beitrag zur Publikation polemisch: „Die Freiheit genießen, im Kunstfeld die (national)staatliche Kulturpolitik der Schweiz im Hinblick auf ihre Komplizenschaft mit der im Land und in der Übereinstimmung mit der EU umgesetzten rassistischen und abschottenden Migrations- und Asylpolitik zu kritisieren.“
„Was ist denn das, was ich nicht nicht kauen wollen kann“
(Rubia Salgado)
Sind in Anbetracht der staatlichen Umarmung alle Versuche obsolet, in die aufgeklärt-pluralistische Selbstgefälligkeit zu intervenieren? Hat Andrea Thal eine Chance, wenn sie, statt sich am Nationalen abzuarbeiten, einen Schwerpunkt auf queere (und) postkoloniale Kritik legt? Ihr Versuch besteht darin, nicht ihrerseits aufzuklären, sondern zu einer körperlichen Annäherung einzuladen: chewing – Kauen als eine Form des Wahrnehmens, des Erinnerns und der – potenziell politischen – Praxis. Eine Form, die sich durch ihre affektiven Momente auszeichnet, die lustvoll und genießerisch oder angewidert, widerstrebend oder auch leidvoll sein können. Kauen, so argumentiere ich in meinem Beitrag zur Ausstellungspublikation, ist keineswegs das gleiche, wie etwas im Munde zergehen zu lassen. Kauen ist eine aggressive, zerstörerische Tätigkeit, die etwas zu Brei mahlt – auch wenn dabei köstliche Säfte spritzen.
Zugleich sind im Zerkauen, Durchkauen oder Wiederkäuen bestimmte Zeitlichkeiten angelegt, aus denen unterschiedliche chronopolitische Strategien entstehen können. Eine Zeit der Entscheidung: schlucken oder spucken? Oder eine Zeit der Wiederholung bzw. des Wiederkäuens: schlucken, hochwürgen, erneut schlucken usw. Dass beide Zeitlichkeiten einander nicht ausschließen, wird bedeutsam, wenn ich frage, wie derartige Zeit/politik/en im Kontext queerer postkolonialer Kritik zum Einsatz gebracht werden. Die Herausforderung besteht darin, unterschiedliche Möglichkeiten des Erinnerns und Sprechens postkolonialer Geschichte anzuerkennen, ohne die darin angelegten Machtdifferenzen und Asymmetrien in definierten Positionen/Konstellationen festzuschreiben. Deshalb schlage ich vor, das Kauen als ein Kauen von oder innerhalb geteilter Szenarien zu verstehen, in denen sich Dynamiken der Macht und des Begehrens abspielen. Asymmetrien sind dann nicht einfach gegeben, sondern vollziehen und verändern sich im Hinblick darauf, wie sich Gestaltungsmacht an und innerhalb der Szenarien verteilt: Wer landet im Topf kannibalistischer Fantasien? Wer beißt sich die Zähne aus? Und wer bezeugt dies?
„Die eigene Verstricktheit ankauen“ (Rubia Salgado)
Während der Theaterterminus „Chewing the Scenery“ die Aufmerksamkeit ursprünglich auf das Bühnengeschehen lenkt, verschieben die beiden künstlerischen Arbeiten der Ausstellung wie auch viele der Publikationsbeiträge den Fokus auf das Publikum. Inwiefern stellen sich im Chewing the Scenery unerwartete Beziehungen zu den künstlerischen Arbeiten her? Wie vollziehen sich Wahrnehmungsprozesse, und was heißt es, dass sich im Kauen eine – womöglich gewaltvolle – Intimität einstellt? Da im Szenario, wie Filmtheoretikerin Teresa de Lauretis festhält, alle immer zugleich Subjekt, Objekt und Betrachter_in des Geschehens sind, stellt sich zudem eine Sozialität her, die die Opposition von Darsteller_in und Betrachter_in untergräbt.
Ein konfliktinteressiertes Publikum, das sich aktiv verwickelt, so lautet der Wunsch von Tim Zulauf/KMU Produktionen. Bei der aktuellen Arbeit Deviare – Vier Agenten – Part of a Movie besteht die Herausforderung jedoch darin, dass sich der_die Schauspieler_in, obwohl inmitten des Publikums agierend, der Interaktion entzieht. Mit „dem Selbstmonitoring seiner inneren Stimmen beschäftigt“, benennt Zulauf diesen Zustand. Für das Publikum entstehen hieraus verschiedene Optionen: Es kann eine Projektionsfläche finden, um den Umgang mit eigenen inneren Stimmen zu erforschen. Die_der Zuschauer_in kann sich aber auch entscheiden, den theatralen Bewegungen zu folgen, die sich rund um das Teatro, im Hin und Her zwischen Foyer und Gehweg, auf dem Quai, in den Gassen abspielen. Oder sie_er wählt den Videoscreen im Foyer als den entscheidenden Bezugspunkt, allerdings um den Preis, zumeist das Schauspiel zu verpassen. Die drei Figuren auf dem Screen, die Anweisungen erteilen, die per Lautsprecher in die Gassen übertragen werden, sind womöglich auch nur innere Stimmen – pikant vor allem deshalb, weil ihre Impertinenz die Frage aufwirft, wie mit denjenigen Stimmen umgegangen wird, die Autorität reklamieren: unterwerfen, ignorieren, betören, rebellieren? Fragen, die viel zu viele Antworten erlauben.
Die Chronopolitik von Zulaufs Stück ist bestimmt durch den Loop und die Unfähigkeit der inneren Stimmen, sich „zu Ende zu erzählen“. Diese Weigerung, zu schlucken oder zu spucken, wirft das Publikum immer wieder auf sich selbst zurück. Dennoch wird es zugleich in eine Agentenstory verwickelt: Ich höre ein Telefongespräch mit, das nicht für meine Ohren bestimmt ist. Ungewollt „geschluckte“ Informationen. Doch bewirken sie, dass ich dem investigativen Journalismus huldige? Oder der Verfolgung von Sinti und Roma Brisanz abgewinne? Oder die aufgeführten Codes des Bettelns auf der Folie einer neoliberalen Regulierung des Stadtraumes lese? Und wenn ja, reaktiviert dies nicht erneut den Gestus der Aufklärung? Stattdessen scheint es, als wenn die Konflikte, für die sich das Publikum in der Verwicklung in dieses Agentenspiel interessiert, vorwiegend innere Konflikte sind. Im Hinblick auf postkoloniales, vielleicht auch traumatisches Erinnern ist dies sicherlich nicht irrelevant – und doch bleibt ein Nachgeschmack. Dieser weckt den Wunsch, von hier ausgehend mögen sich äußere Konflikte entfachen.
„Kauen, um wach zu bleiben“ (Rubia Salgado)
Ein ähnlicher Wunsch liegt angesichts der gelangweilten Indifferenz nahe, die die Protagonist_innen von Pauline Boudrys und Renate Lorenz doppelter Filminstallation No Future und No Past (2011, je 15') füreinander hegen. Das Setting könnte eine Band sein, die Jahre nach ihrer Auflösung, nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Grund ungewisser äußerer Umstände, wieder zusammenkommt und auf einen Auftritt vorbereitet wird. Der Titel „No Future“ sowie die Besetzung (Ginger Brooks Takahashi/MEN as Darby Crash; Fruity Franky/Lesbians on Ecstasy as Poly Styrene; G. Rizo as Joey Ramone; Olivia Anna Livki as Alice Bag) legen nahe, dass es sich hierbei um eine Punkband handelt. Die zu erwartende Aggression oder Negativität beschränkt sich allerdings auf die jeweiligen Soloauftritte am Ende der Filme. Wobei die dort zu Bruch gehenden Gitarren auch als kanonisierte Zitate und die Arbeit an den Instrumenten als Form experimenteller Musik gelesen werden können. Die auch bei Zulauf aufgeworfene Frage der Autorität verkompliziert sich in der Figur des Onscreen Directors Werner Hirsch. Dieser erteilt zwar Anweisungen, denen – wenngleich ohne Enthusiasmus – Folge geleistet wird, doch kann er aus seiner Position weder das Geschehen überblicken noch ist er in der Lage, ohne Script zu agieren. Aus Perspektive des Publikums ist er nichts anderes als ein weiterer Protagonist: Und alle finden sich zum Familienfoto zusammen.
Wenn weder Punk-Geschichte noch Heteronormativitätskritik auf der Bühne zu finden sind, worin artikuliert sich dann queeres Begehren? Polemisch beginnen Boudry und Lorenz die Filme mit einem Versprechen, das überhaupt nicht vielversprechend klingt: „In those days, desires weren’t allowed to become reality, so fantasy was substituted for them. Films, books, pictures, they called it ,art‘. But when your desires become reality, you don’t need fantasy any longer or art.“ Figuren des Fortschritts und der Teleologie speisen diesen Abgesang an Fantasie und Kunst. Doch die linearen Fortschrittsszenarien werden gezielt unterbrochen, und der_die Betrachter_in verfängt sich in einer verfilzten Zeit, in der 1973 (No Past) und 2031 (No Future) eine unentwirrbare Gleichzeitigkeit bilden. Letztendlich erweisen sich die Filme, entgegen dem obigen Motto, als elaborierte Fantasie-Szenarien. Und so manche_r „might call it art“.
Zu kauen hat der_die Betrachter_in daran, dass sowohl die Identifizierung mit der Kamera als auch die Identifizierung mit den Protagonist_innen verweigert werden. Während letztere auf eine imaginäre Frontalkamera hin spielen, wird das Geschehen von einer seitlichen Standkamera gefilmt. Das Publikum ist auf eine dezentrierte Position verwiesen und muss noch dazu akzeptieren, dass einige der Protagonist_innen zeitweilig aus dem Bild heraustreten. Von dieser Position aus ist keine Macht über das Geschehen zu reklamieren. Doch trotz dieser Verschiebung kommt eine Destabilisierung der Zuschauer_innenposition erst dann zustande, wenn die abschließenden Soloauftritte die Kamera in Bewegung versetzen, sie dazu bringen, den Vorgaben der Protagonist_innen zu folgen und sich für sie en détail zu interessieren. Vielleicht ist Begehren hier Wirklichkeit geworden; doch Fantasie ist damit keineswegs obsolet. Betrachter_in und Protagonist_in finden sich in einem geteilten Szenario wieder, in dem ihre Begehren ebenso fantasmatisch sind wie ihre Phantasien real. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage nach der Arbeit an den Machtverhältnissen. Erweist sich das Szenario als ein politisches Szenario, in dem Konflikte sich äußern und asymmetrische Konstellationen verändert werden? No Future/No Past verweigert die Referenz auf ein Vorher oder Nachher. So bleibt die Entscheidung beim Publikum: schlucken, spucken oder wiederkäuen?
Antke Engel ist freiberuflich in Wissenschaft und Kulturproduktion tätig. Sie hat das Institut für Queer Theory ins Leben gerufen; ein Ort, an dem sich akademische und aktivistische, philosophische, politische und künstlerische Praxen verflechten.
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