Die Wasserwaage als Metapher
Zur Ausstellung „Vor Gericht – Cases Reopened“ im Wiener Landesgericht
Die Ausstellung Vor Gericht – Cases Reopened war von Mitte Oktober bis Anfang Dezember 2013 im Wiener Landesgericht zu sehen. Der israelische Künstler Tal Adler zeigte zusammen mit der Historikerin/Kunstvermittlerin Karin Schneider acht fotografische Arbeiten. Eingeladen und organisiert wurde die Ausstellung durch den Präsidenten des Landesgericht für Strafsachen Wien Friedrich Forsthuber. Der Zutritt war im Zuge von zehn Veranstaltungen möglich.
Zu sehen waren jeweils vier Fotos aus den Serien Leveled Landscapes und Freiwillige Teilnahme. In ersterer ist die wiederkehrende Wasserwaage zentral, die als scharf fokussiertes Objekt die Bilder dominiert. Die abgebildeten Orte im Hintergrund wirken wie Schemen, die Entschlüsselung ist erst durch die Zusatztexte möglich. Das geschieht neben den Bilderklärungen eben durch sieben inhaltliche Veranstaltungen, die sich sehr präzise und zielgerichtet an die Bild-Themen halten.
Beim Betreten des gar nicht so großen „Großen Sitzungssaales“ gehen die acht Bilder regelrecht unter; zwischen all dem überladenen Stuck der Wände, dem massiven, roten, raumeinnehmenden Tisch und den sich sowieso im Raum befindlichen Porträts, die man sehr wohl abhängen hätte können. Insofern ist eher von einer Raumintervention als einer Ausstellung im klassischen Sinne zu sprechen. In einer Ecke befand sich das Offene Archiv, dessen Material die Grundlage für die Bildanalyse durch die Initiator_innen bildete, darüber hinaus auch den Besucher_innen weitere Informationen zu den einzelnen Cases Reopened bot. Ähnlich war es auch bei der Ausstellung Laboratorium Österreich in der Akademie der Bildenden Künste im März/April 2013.
Schemenhafte Orte, verschlüsselte Bedeutung
Heldenplatz, Flakturm, Riesenrad – drei Bilder der Serie Leveled Landscapes fassen aktuelle vergangenheitspolitische Diskussionen ein. Unter der Überschrift „Heldenplatz“ wurden in den letzten Jahren zentrale Lücken und Lügen der österreichischen Selbst-Darstellung verhandelt: von der dortigen Gedenkstätte für (Waffen-)SS und Wehrmacht, über die jährliche militaristische Waffenschau des Bundesheeres, die Diskussion über richtigere Daten für den Staats-/Nationalfeiertag bis hin zur mehrjährigen Diskussion über einen Standort für das Wiener Deserteursdenkmal ebendort.
Ähnliches lässt sich über die Flaktürme sagen: Seit Jahren wird über eine Verwendung der Türme, deren moralische Zulässigkeit und technische Tauglichkeit, gestritten. Die allgemeine Problematik im Umgang mit diesen wird in der Ausstellung zu einer ganz aktuellen kommunalpolitischen Übeltat in Bezug gesetzt: die Benennung einer Verkehrsfläche, deren einzige Hausnummer gerade der durch Zwangsarbeit errichtete Flakturm ist, nach einem Opfer der Shoa (Fritz-Grünbaum-Platz 1).
Das Riesenrad steht stellvertretend für einen dritten vergangenheitspolitischen K(r)ampf: die Sichtbarkeit und der Umgang mit „Arisierungen“. Nach außen hin ist das Riesenrad, ähnlich dem Heldenplatz, ein touristisches Objekt; für die österreichische „Generation Aufbau“ steht es für Wiederaufbau und Identität. Dass dieses Wahrzeichen eine belastende Vergangenheit besitzen könnte, ist der Mehrheit der Österreicher_innen ein Graus und daher ebenso wenig denkbar, wie die Möglichkeit, dass das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker eine Erfindung der Nazis wäre.
Das vierte Bild der Reihe Leveled Landscapes nimmt den Rücken des Denkmals für Johann-Strauß (Sohn) im Stadtpark in den Blick. Tatsächlich aber fokussiert das Interesse des Bildes eben nicht auf das bestehende Denkmal, sondern auf das fehlende: das für den von Polizisten, Sanitätern und einem Notarzt 2003 ermordeten Physiker Seibane Wague. In der entsprechenden Veranstaltung berichtete Rechtsanwältin Nadja Lorenz ausführlich aus den Prozessen und über die dadurch eingeleitete allgemeine Reflexion. Das 2003 errichtete Denkmal für Wague wurde angezündet – und nie wieder errichtet.
Ausstehende Auseinandersetzungen, gruppenspezifische Reflexion
Die vier Bilder aus der Reihe Freiwillige Teilnahme verweisen auf gruppenspezifische Reflexions- und Diskussionsprozesse: Den Aspekten Nationalsozialismus und Antisemitismus stellten sich die Skilehrer_innen der Skischule Seefeld, die Angehörigen des Pfarrgemeinderates einer Wiener Pfarre und Mitglieder des Alpenvereins. Gemein ist diesen, dass sie teils Ausschlüsse von Juden und Jüdinnen bereits in den 1920ern beschlossen haben oder von Antisemiten gegründet wurden. Das letzte Bild der Reihe zeigt Wiener Staatsanwält_innen und Richter_innen im Wiener Landesgericht. Laut Bildbeschreibung haben sich diese aktuell „dem Erbe ihrer Vorfahren“ zu stellen. Wie man sich dem stellt, wird in der letzten Veranstaltung Anfang Dezember (und somit nach Drucklegung) zu hören sein. Dass sich Richter_ und Staatsanwälte_ lange nach 1938 „durch Antisemitismus, Deutschnationalismus, Antislawismus und Antimarxismus verbunden“ (Stadler 2007: 16 ) fühlten, ist die Basis der ausstehenden Auseinandersetzungen.
Die durch die Bilder angesprochenen Themen sind aktuell, ebenso der erinnerungspolitische Zugang, Diskussionen anzufachen statt Betretenheit zu erzeugen. Auch wird keine Metaebene geschaffen, sondern auf dem jeweils kleinsten gesellschaftlichen Teiler oder an konkreten Orten nach dieser Diskussion gesucht. Die Bilder graben direkt vor Ort, verweisen indirekt auf größere Zusammenhänge und Gesamtbilder. Die technisch absichtlich teils diffusen Fotos führen so zu erstaunlicher Klarheit. Die Wasserwaage dient dabei als Metapher für den nicht geraden, objektiven Blick auf Geschichtsschreibung und Erinnerung. Widerhall findet dieser Zugang auch im Veranstaltungskonzept, das viele und verschiedene zu Wort kommen lässt und Raum für Diskussion öffnet.
Literatur
Stadler, Wolfgang (2007): „ … juristisch bin ich nicht zu fassen.“ Die Verfahren des Volksgerichts Wien gegen Richter und Staatsanwälte 1945-1955. Wien.
Terese Kasalicky studiert Kunst, lebt und arbeitet in Wien. Mathias Lichtenwagner studierte Politikwissenschaft, lebt und arbeitet in Wien.