L'architecture engagée
Der Katalog zur Ausstellung des Architekturmuseums der Technischen Universität München in der Pinakothek der Moderne 2012 versucht, architektonische und stadtplanerische Utopien der letzten Jahrhunderte zu beschreiben und auf ihr emanzipatorisches Potenzial hin zu untersuchen. Der Begriff einer Architecture engagée wird hier als auf Architektur übertragene Bezeichnung verstanden, die sich durch eine beabsichtige Einflussnahme auf lebensweltliche Zusammenhänge auf der Grundlage ethisch motivierter Haltungen und aufklärerischer Elemente auszeichnet. Der Fokus wird auf Architektur- und Stadtplanungskonzepte gelegt, die eine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse bewirken sollen. Es geht also nicht nur um Strategien zur Verbesserung von Mobilität, Wohnverhältnissen, Produktionsbedingungen etc. – wie sie beispielsweise von Le Corbusier vorgeschlagen wurden –, sondern um eine Veränderung gesellschaftlicher Zustände insgesamt, um das politische Potenzial von Architektur und Stadtplanung.
Stadtplanerische Entwürfe, die auf mehr abzielten als auf bloße zweckgebundene Tätigkeit, wurden beispielsweise in den 1920er-Jahren diskutiert, aber mit den totalitären Entwicklungen dieser Zeit zurückgedrängt. In der Zeit des Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit wurden auf Veränderung der Gesellschaft angelegte Konzepte moderner Architektur aufgrund der Masse an Bauaufgaben verwässert, in den 1960er-Jahren mit einem rasanten Bauboom und funktionalistischen Neubausiedlungen an den Stadträndern gingen diese Ideen nahezu verloren.
Im Katalog werden grundsätzlich zwei Utopie-Modelle – sowie Mischformen dieser beiden Idealmodelle – unterschieden: ein herrschaftsbezogenes, archistisches Modell, das eine Bändigung individualistischen Verhaltens und der äußeren Natur sowie die Schaffung geordneter Räume bezweckt; und ein herrschaftsfreies, anarchistisches Modell mit einem Idealbild von individueller Freiheit und Übereinstimmung mit der Natur. So werden etwa die feministischen Emanzipationskonzepte der russischen Revolutionärin Alexandra Kollontai, frühsozialistische Planungsentwürfe wie die von Robert Owen in Großbritannien und Charles Fourier in Frankreich und in deren Folge die Gartenstadtidee von Ebenezer Howard vorgestellt.
Benannt wird auch die Funktion von Stadt- und Wohnungsbau und der Stadtplanung als ein potenzielles Mittel der Pazifizierung der sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts emanzipierenden und kampfbereiten Arbeiter_innenklasse. Individualistische Stadt- und Lebenskonzepte sollten die rebellischen Teile der Gesellschaft verstärkt an den eigenen Grund und Boden binden.
Der Band enthält eine Fülle von Planungs- und Architekturentwürfen und beschreibt für das 20. Jahrhundert so unterschiedliche Zugänge wie den des paternalistischen „Roten Wien“ oder das Programm der Situationistischen Internationale aus den 1960er-Jahren, die versuchte, die Sterilität und Dominanz der funktionalen Stadt, das politische System und die kapitalistische Ökonomie zu denunzieren.
Im Grunde ist der Katalog ein Plädoyer für die Utopie – auch und gerade in Architektur und Planung. Winfried Nerdinger, Architekturhistoriker und Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums München, argumentiert als Herausgeber des Bandes für Engagement und Veränderungswunsch, gegen Vollkommenheitsideale und für einen offenen Zugang auf zukunftsgerichtete Konzepte.