Was schlägt die Stunde? Kunst und Kultur mit Blick auf „Die Grenzen des Wachstums“

Es ist fünf vor zwölf. So der Club of Rome, eine Denkfabrik für Zukunftsfragen, 1972 in seinem auf wissenschaftlicher Evidenz basierenden Weckruf „Die Grenzen des Wachstums“. Rasch wurde dieser Bericht damals in über dreißig Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft. Im Horizont der „Wirtschaftswunderjahre“ seit dem Zweiten Weltkrieg, der ständigen Angst vor einer Eskalation des Kalten Krieges und der Studentenproteste von 1968 hielt die Studie dem Optimismus einer fortschrittsgläubigen Moderne mit blanken Zahlen entgegen: Exponentielles Wachstum bei biophysisch begrenzten Ressourcen muss zwangsläufig zur Katastrophe „führen. Die Menschheit stehe vor der Wahl. Mit einem Weitermachen wie bisher seien die Grenzen des Wachstums binnen hundert Jahren erreicht. Dabei zeigte das Studienteam sich zuversichtlich: Es sei sehr wohl möglich, die Wachstumstrends zu ändern und eine „ökologische und ökonomische Stabilität“ anzustreben. Ein halbes Jahrhundert liegt dieses Wachrütteln nun zurück. Und beklommen stehen wir vor der Frage: Inwieweit hat der damit verbundene Bewusstseinswandel de facto eine Umorientierung hin zu nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweisen bewirkt? Wenn es damals fünf vor zwölf war, wo stehen wir heute? Wo stehen Kunst und Kultur angesichts der Grenzen des Wachstums?

Wachstumslogik

Wissenschaft und Kunst – Leitinstanzen der Moderne 

Die Kunst gilt neben der Wissenschaft als Leitinstanz der Moderne. Im Prozess westlicher Säkularisierung haben beide die Führungsmacht Kirche abgelöst. Und tatsächlich sind, namentlich seit den 1970er Jahren, immer wieder kraftvolle, inspirierende Werke, Bewegungen und künstlerische Interventionen entstanden, die das Lebendige verteidigen und Ausbeutung demaskieren – siehe etwa arte povera, die paradigmatischen „7000 Eichen“ von Joseph Beuys in Kassel sowie diverse kapitalismuskritische Kunstströmungen. Seit ein, zwei Jahrzehnten setzen Künstler*innen und Kulturschaffende sich zunehmend praxisbasiert mit dem Leitbild Nachhaltigkeit auseinander, zuletzt besonders im Horizont der Agenda 2030. Ist also die Kunst angesichts der sich anbahnenden Menschheitskatastrophe ihrer Verantwortung als Leitinstanz gerecht geworden? Wurde das symbolische Kapital von Kunst und Kultur wirksam für eine gesellschaftliche Umorientierung hin zu Nachhaltigkeit? Die Antwort kann nur lauten: nein. 
Hier wird man einwenden: Was können Kultur und Kunst schon ausrichten gegen die hocheffiziente, hochprofitable Megamaschinerie der Ausbeutung, angefacht von einem globalisierten Neoliberalismus? Wohl nicht gerade viel. Und gewiss umso weniger, je länger die Verstrickung des Kunst- und Kulturbereichs selbst in das (noch) vorherrschende, zutiefst destruktive Mindset verdrängt bleibt. Von da aus lautet die These dieses Beitrags: Die immer zahlreicheren engagierten Künstler*innen und Kulturinitiativen brauchen jetzt dringend strategisch-programmatische Unterstützung auf der Systemebene: Da, wo wir heute angelangt sind (zwei vor zwölf? eins vor zwölf?) stehen das „Betriebssystem Kunst“ (Thomas Wulffen) wie auch die Kulturpolitik nachgerade in der Pflicht, das eigene System weit über bisherige Ansätze hinaus von einer kritischen Selbstreflexion aus grundlegend neu auszurichten. In dem Maße wie das in Gang kommt, lassen sich gegenwärtige Praxisdefizite – fehlende Austauschplattformen, beschränkte materielle und personelle Möglichkeiten und ähnliches – überwinden. Vielleicht können die folgenden Betrachtungen Impulse hierfür geben.   

 

Drei Schichten der Verstrickung


Die oberste Schicht der systemischen Verstrickung von Kunst und Kultur in ein nicht zukunftsfähiges Mindset zeigte sich im Jahrzehnt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem UN-„Erdgipfel“ in Rio de Janeiro. Damals lagen – siehe „Die Grenzen des Wachstums“ – die wissenschaftlichen Fakten zur Erderhitzung wie generell zur Übernutzung biophysischer Ressourcen längst auf dem Tisch, während im Geist von Rio die Umrisse einer postideologischen und postkonsumistischen Zivilisation aufschienen. De facto indes mutierte der Kapitalismus nach dem Wegfall des Systemkonkurrenten als Neoliberalismus zum Turbokapitalismus, und sämtliche Hemmschwellen fielen. Traurig, aber wahr: Auch und gerade weite Teile der Kultur und insbesondere der Kunstwelt ließen sich mit in den machtvollen, schillernden Sog der globalisierten Finanzindustrie ziehen. Kunst wurde zu einem bevorzugten Anlageobjekt, auf den Märkten gingen die Preise dafür durch die Decke.
Eine zweite Schicht der Verstrickung reicht hinab in die Neuzeit, den Beginn der westlichen Moderne. Wann machen wir uns je bewusst, wie eng verwandt, ja verschwistert der Kapitalismus und der moderne Kunstbegriff in ihren Anfängen sind? Nur etwa hundert Jahre vor dem Aufbruch der Renaissance wagten sich in Florenz und anderen Städten Mittel- und Norditaliens Kaufleute an immer komplexere Transaktionen, operierten mit Wechseln und gründeten Banken. Alles mit dem Ziel, möglichst hohe Profite zu erwirtschaften. Es waren Vorboten einer neuen Zeit – die ersten Kapitalist*innen (1). Und heute sticht geradezu ins Auge, wie sehr zentrale Parameter des Neoliberalismus – Wettbewerb, Konkurrenz, Singularität, Innovation, Produktfixierung und Marktfähigkeit – auch und gerade den Kunstbetrieb beherrschen. Ganz offensichtlich teilt die Kunstwelt bei aller Vorliebe für Systemkritik einen beträchtlichen Teil ihrer DNA mit dem etablierten, zutiefst zukunftsunfähigen Wirtschaftssystem. Erkennbar wird dies insbesondere, wenn man indigene Perspektiven(2)  einnimmt oder, wie das indonesische Künstler*innenkollektiv runagrupa, Kurator*in der diesjährigen documenta fifteen, sich dezidiert außerhalb des westlichen Kunstbegriffs verortet. 
Die tiefste und wohl wirkmächtigste Schicht systemischer Verstrickung dürfte der Dualismus als Gründungsakt abendländischen Denkens sein. Mit René Descartes Trennung von res cogitans und res extensa wurde daraus das Axiom: Nur der Mensch ist kraft seiner Ratio Subjekt, und die gesamte nichtmenschliche Mitwelt ist Objekt. Ist mithin Ding, Ressource, Rohstoff, Ware. Bis heute bereitet diese Weltsicht der globalisierten Ökonomie mit ihrem Vermarkten, Verbrauchen, Vernutzen, Verramschen, Verwüsten von Lebendigkeit immer wieder neu den Boden. 
Wobei ausgerechnet die Naturwissenschaften, von denen das nicht unbedingt zu erwarten war, das dualistische Weltbild inzwischen von Grund auf widerlegt haben – etwa mit den Erkenntnissen der Quantenphysik, der allgemeinen Systemtheorie, der neuen Biologie und der Erdsystemforschung. Und namentlich im Anthropozän-Diskurs ist die Trennung in Kultur (res cogitans) hier und Natur (res extensa) dort an ihr Ende gelangt: So wie der Mensch sich zu einem gestaltenden Teil der Natur gemacht hat, durchziehen die Regeln des Natürlichen, des Stoffes und der Materie alles Menschliche. Angesichts dessen sind, wie unlängst etwa der Philosoph Wolfgang Welsch erklärte, alle Denkweisen, die noch immer auf dem alten Dualismus beruhen, obsolet geworden. Heute gelte es, eine neue Sicht des Mensch-Welt-Verhältnisses auszugestalten – „eine der Kontinuität und Zusammengehörigkeit“. Dies sei „das Pensum des zeitgenössischen Denkens“ (3). Von da aus ist es bitter zu konstatieren: Wenn die gesellschaftlichen Muster und Strukturen noch immer weithin auf dem alten Dualismus beruhen, gilt dies oft insbesondere für den Kunst- und Kulturbereich! Vielleicht weil ein Hinterfragen der Dichotomie „Kultur“ versus „Natur“ das eigene Selbstverständnis als gesonderter gesellschaftlicher Bereich ins Wanken zu bringen droht?   

 

„Imagine“


Jede nicht hinreichend erkannte Verstrickung, jede Verdrängung hat ihren Preis – zu zahlen von allen, die davon betroffen sind. Schlussendlich aber schlägt mangelnde Selbstreflexion stets auch auf den Urheber zurück. Nicht gesehene Schatten, eigene blinde Flecken hemmen nicht nur die Tatkraft, sondern auch die Vorstellungskraft. 
Dies dürfte mit eine Erklärung dafür sein, dass die Kultur- und Kunstwelt derzeit in oft kaum zu glaubendem Maße geprägt ist von Partikularinteressen, Selbstreferentialität, Besitzstandswahrung, Pfadabhängigkeiten, einem „box in the box in the box“-Denken. Fatalerweise hat die Corona-Krise diese Mentalität noch einmal verstärkt – wobei sie zugleich offenlegte, wie sehr auch und gerade der Kulturbereich am Tropf des auf Wachstum gepolten und damit nicht-nachhaltigen Wirtschaftssystems hängt. Während immer mehr Künstler*innen und Kulturinitiativen beeindruckende transformative Impulse einbringen, wirken die Kunstwelt wie auch die Kulturpolitik auf struktureller Ebene gehemmt, wie Gefangene ihrer Systemimmanenz. Und das zu einem Zeitpunkt, wo angesichts des nötigen gesellschaftlichen Bewusstseinswandels die Ressourcen Imagination und Kreativität überlebenswichtig geworden sind! 
„If you can’t change from within the system, change the system“, lehrt uns die Fridays for Future-Bewegung. Stellen wir uns also, ermutigt und inspiriert von „Imagine“, John Lennons Hymne an die transformative Kraft der Imagination, einmal vor:
Die Kulturpolitik bekennt sich offen dazu, in Bezug auf das sich anbahnende ökologische Desaster die letzten Jahrzehnte geschlafen zu haben, ähnlich wie der Wirtschaftssektor, allen voran die (Auto-)Industrie. Sie erkennt an, dass wir uns aktuell in einer nie da gewesenen menschheitsgeschichtlichen Ausnahmesituation befinden. Sie benennt die „anmaßende Sonderstellung des Menschen“ (4) ,  Gründungsannahme des abendländischen dualistischen Denkens, als maßgeblichen Treiber des derzeitigen planetaren Sterbeprozesses. Sie beschließt aufgrund all dessen, nun ihrer Verantwortung nachzukommen. Wie? Da, wie die Wissenschaft darlegt, für ein Abwenden von Kippelementen des Erdsystems nur noch extrem wenig Zeit bleibt, geht die Kulturpolitik eine freiwillige Selbstverpflichtung ein: Während der kommenden zehn Jahre praktiziert sie eine klare Priorisierung. Sie investiert das gesammelte symbolische Kapital von Kunst und Kultur in die Herkulesaufgabe, mitzuwirken an der Etablierung eines Wirtschaftssystems, das die biophysischen Belastungsgrenzen des Planeten respektiert. Dafür schmiedet sie strategische Allianzen und Bündnisse mit vielfältigen Akteursgruppen aus der Wirtschaft, aber auch der Zivilgesellschaft, besonders mit von jungen Menschen geprägten Initiativen und Organisationen. 
Dies alles geht am Wesen der Kunst und an den Zuständigkeiten von Kulturpolitik vorbei? In einem Interview nach der wichtigsten Aufgabe zeitgenössischer Kunst befragt, antwortete der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys: „Die Wirtschaft neu zu gestalten.“  (5)  

 

Dr. Hildegard Kurt, Kulturwissenschaftlerin und Autorin, Mitbegründerin des „und. Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit e.V.“ in Berlin 

 


(1) Fischer, Oliver (2014): „Florenz um 1300: die ersten Kapitalisten“, Geo Epoche, Nr. 69-10/14, https://www.geo.de/magazine/geo-epoche/1548-rtkl-florenz-um-1300-die-er… (letzter Zugriff: 26.2.2022).

(2) Weber, Andreas (2018): Indigenialität. Berlin: Nicolai; Graeber, David / Wendgrow, David (2022): Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Stuttgart: Klett-Cotta.

(3) Welsch, Wolfgang (2021): Im Fluss. Leben in Bewegung. Berlin: Matthes & Seitz, S. 32. 

(4) Hanusch, Frederic / Leggewie, Claus / Meyer, Eric (2021): Planetar denken. Ein Einstieg. Bielefeld: transcript, S. 91.

(5) Zitiert nach einer Wandtafel in der Ausstellung „Der Erfinder der Elektrizität. Joseph Beuys und der Christusimplus“, kuratiert von Eugen Blume im Auftrag der Stiftung St. Matthäus. Berlin, 9.4.–12.9.2021.
 

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