Blasted into peaces. Eine virtuelle Kuh-Entführung als Drama in vier Akten
Verwirrung macht sich breit in den Räumen der Online-Redaktion einer österreichischen Tageszeitung. In welches Ressort passt die eben eingetroffene Meldung von der Entführung einer Kuh aus dem Garten des Schloss Belvedere?
Verwirrung macht sich breit in den Räumen der Online-Redaktion einer österreichischen Tageszeitung. In welches Ressort passt die eben eingetroffene Meldung von der Entführung einer Kuh aus dem Garten des Schloss Belvedere? Im Rahmen der mit 25 peaces betitelten Historieninszenierung der österreichischen Bundesregierung fristen dort gegenwärtig mehrere Kühe ihr Dasein, was an die Nutzung des Schlossgartens als Weidefläche direkt nach dem Zweiten Weltkrieg und damit an die Versorgungsengpässe dieser Zeit erinnern soll.
Eine Gruppe Unbekannter war also in der Nacht auf den 10. Mai 2005 in das Areal eingedrungen und hatte eines der Tiere in ihre Gewalt gebracht. Ein klarer Fall für die Chronik? Auf den ersten Blick: Ja. Wäre da nicht das mysteriöse Bekennerschreiben der Gruppe, in dem sie sich selbst als Zellen Kämpfender Widerstand/kommando freiheit45 (ZKW) und die Kuh als ihre "politische Gefangene" bezeichnet. Wie ernst es den Entführern ist, beweisen die Forderungen, die Teil des Bekennerbriefes sind: Die Truppe verlangt nicht weniger als das öffentliche Schuldbekenntnis von Bundeskanzler Schüssel und ORF-Intendantin Lindner im Rahmen der Zeit Im Bild, "die österreichische Bevölkerung im Jahr 2005 mit Geschichtslügen in die Irre geführt und nationalistisch verhetzt" zu haben. Starker Tobak. Vielleicht doch eher was fürs Politik-Ressort? Aber der Forderungskatalog geht noch weiter: Das ZKW erwartet sich außerdem "eine Anerkennungsleistung von jährlich zehn Millionen Euro für Partisaninnen (mit kleinem "I") und Deserteure" sowie die "Errichtung eines Denkmals für Deserteure am Heldenplatz". Rauchende Köpfe in der Redaktion, erste Zweifel an der Echtheit der ganzen Chose. Dann die letzte Forderung der Entführer: Sie verlangen "die sofortige Einrichtung eines Partisanenmuseums" - mitten im Wiener Museumsquartier! Aufatmen. Ein klarer Fall fürs Kulturressort.
Doch die, wie sich später zeigen sollte, von Anfang an fingierte Ingewaltnahme einer Kuh aus den Gärten des Belvedere hat in den letzten Wochen nicht nur so manche österreichische Redaktionsstube in Aufruhr versetzt. Lange Zeit war nicht klar, ob die "Geiselnahme" der Kuh echt sei, wer dahinter stecken könnte und ob der hauptsächliche Adressat der Aktion - die österreichische Bundesregierung - darauf reagieren würde.
Das lange Hinauszögern ihrer endgültigen Auflösung war jedoch wesentlicher Bestandteil der medialen Strategie einer Aktion, die besser konzipiert und pointierter inszeniert war, als das millionenschwere Geschichtsschauspiel der Bundesregierung im laufenden Gedenkjahr es je hätte sein können: Den Aktivisten des ZKW genügten einige wenige, geschickt und zum richtigen Zeitpunkt an neuralgische Punkte im Internet gesetzte Informationen und Bilder, um ihre Botschaft äußerst wirkungsvoll zu verbreiten. So präsentierten sich die Geiselnehmer auf den sukzessive veröffentlichten Fotos als allzeit zur Tat bereite Stadtguerilleros, inklusive Strumpfmaske, dunkler Kapuzen und Waffen im Anschlag auf die gekidnappte Kuh - und drohten bereits im ersten der insgesamt vier Communiqués, das Tier bei Nichterfüllung der gestellten Forderungen erbarmungslos in die Luft zu sprengen. So sollte es dann auch kommen: Am 16. Mai verkündeten die ZKW-Aktivisten: "ES REICHT! Kuh für Partisaninnen und Deserteure explodiert!" Und weiter: "Am 15. Mai 2005 wurde das Tier kurz nach Ablauf der ZIB um 20 Uhr mit 1,5 Kilo Semtex gesprengt. Als Beweisstück wurden die restlichen 0,5 Kilo den Fahndungsbehörden übermittelt." Nur wenige Tage zuvor war ein Bild von abgetrennten und mit Blut verschmierten Gliedmaßen der Kuh im Internet kursiert. Nun folgte ein Foto, auf dem die Kidnapper sowie mehrere Kisten mit dem "Semtex"-Schriftzug zu sehen waren. Und obwohl die Aktion zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgelöst war, blieben sowohl Boulevard als auch Tierrechtsaktivisten ruhig. Man hatte sich offenbar darauf verständigt, im Zweifelsfalle den Aktivisten lieber kein Forum zu bieten.
Wenige Tage später bekannten sich die Protagonisten der Wiener Netzkultur-Institution Netbase dann zu der fingierten Aktion, bei der weder Mensch noch Tier ein Haar gekrümmt worden war: Die Sprengung der Kuh war freilich lediglich eine Inszenierung. Der Falter gab sogleich offiziell Entwarnung (Tierschützer können aufatmen.), der Standard zog wohlwollend nach, und nur das City-Magazin vermochte in der Aktion nicht mehr zu erkennen als ein "halbhumoristisches Medienguerillakonzept", und ein "polemisches Rühren im ideologischen Einheitsbrei unter dem Vorwand geschichtspolitischer Debatten". Ein Vorwurf, der sich bei ernsthafter Auseinandersetzung mit der Aktion jedoch unweigerlich in Luft auflösen muss.
Die von den ZKW anfänglich eingeführten ästhetischen Codes, die Konzepten von Stadtguerilla und Anarcho-Terrorismus entstammen, setzten zwar augenblicklich - und intendierter Weise - eine Interpretationswelle in Gang, die bald keines eigentlichen Inhalts mehr bedurft hätte, wäre die Aktion tatsächlich nur als "halbhumoristisches Medienguerillakonzept" angelegt gewesen. Allein, das war sie nicht. Während nämlich einerseits die nur punktuell eingesetzten Bilder der Protagonisten die Aktion in einen bestehenden und nicht zuletzt von Ikonisierungen geprägten herrschenden Diskurs von Widerständigkeit einspeisten und so medial transportierten, stellten die Forderungen der Gruppe im Bekennerbrief ganz gezielt die realpolitisch brisanten Fragen zur Erinnerungskultur im laufenden Gedenkjahr. Fragen wie: Wo bleibt das Entsetzen, wenn ein formell führender Repräsentant der Republik Österreich öffentlich sagt, dass Deserteure Kameradenmörder seien? Und warum wird nur am äußersten Rande der Feierlichkeiten erwähnt, dass auch der Partisanenkampf in Kärnten und Slowenien einen wichtigen Beitrag zur Befreiung Österreichs vom Nationalsozialismus geleistet hat? Agnes Primocic etwa, eine kommunistische Widerstandskämpferin, die vor 60 Jahren zusammen mit ihrer Freundin Mali Ziegenleder 17 Häftlinge des KZ-Außenlagers Hallein befreit und damit vor der Erschießung gerettet hat, feiert heuer ihren 100. Geburtstag. Und - wer gratuliert?
Eine aus Sicht der ProtagonistInnen des regierungsamtlich propagierten Geschichtsbildes wohl uninteressante Frage, wird doch alles getan, um Friktionen in diesem Bild möglichst zu vermeiden. Während die staatlich verordnete Wahrnehmung dieser einen, dieser genehmen österreichischen Geschichte jedoch stets ein Maximum an Visualisierung und eventförmiger Abpackung als Vehikel brauchte und braucht, arbeiteten die Kuh-Entführer von Anfang an gewissermaßen mit dem Weglassen von vorgefertigten Erzählungen. Damit ist es gelungen, eine eigene widerständige Sprache und Identität zu entwickeln, und das zu einem Zeitpunkt, wo alle Bilder besetzt, der Widerstand definiert und kein Rezept mehr zu wirken schien. Ihr politisches Ziel formulierten die ZKW-Aktivisten in einem ihrer Communiqués so: "Wir müssen die aktuellen strategischen Projekte der symbolpolitischen Formierung des revisionistischen Systems in Österreich angreifen!" Oder, an anderer Stelle, noch stärker ironisch zugespitzt: "Wir zielen darauf ab, den staatlichen Herrschaftsapparat durch bewaffnete Propaganda an einzelnen symbolträchtigen Druckpunkten zu destruieren, stellenweise außer Kraft zu setzen, und damit den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu zerstören." Mithilfe dieser Zielsetzung wurde der Versuch unternommen, die herrschende hegemoniale Strategie der Regierung zu vereiteln, die das Kulturelle dem Politischen vorzieht und politische Gesten, die die existierende Ordnung in Frage stellen, in individuelle kulturelle Äußerungen transformieren und zu "leeren Gesten" abstempeln will.
Das Bild von der Kultur als politischem Schlachtfeld passt hier auch ganz ohne das Bemühen der Kuhmetapher. Es reicht ein Blick auf Antonio Gramscis Konzept der kulturellen Hegemonie, das aktuell im Kontext der Globalisierungskritik zu Recht fröhliche Urständ feiert und auf das sich nicht zuletzt das beschriebene Projekt der Netbase vom Ansatz her bezieht: Nach Gramsci müssen sich oppositionelle Bewegungen, die an der offiziellen Politik keinen Anteil haben, im Bereich der Kultur und im Alltagsleben eine Basis zur Erringung politischer Macht schaffen, um eine kulturelle Hegemonie aufbauen zu können. Radikale politische Ideen, die nur im intellektuell-artistischen Ghetto stattfinden, würden dagegen zu passiven symbolischen Repräsentationen degenerieren und dazu beitragen, dass deren ProtagonistInnen irgendwann nur mehr im eigenen Saft braten. Folgerichtig titulieren die ZKW-Aktivisten in einem ihrer Communiqués ihre KollegInnen von der befreundeten Medienaktion oesterreich-2005.at auch als "blutleere intellektuelle Verräter" - was freilich einer gewissen Selbstironie nicht entbehrt.
Ein an Gramscis Konzept orientierter Politikbegriff meint jedenfalls nicht partikulare Forderungen (à la "halbhumoristisches Medienguerillakonzept"), sondern Interventionen, die den Rahmen der offiziellen Politik selbst ändern. Solche Akte sind nicht auf die Normalisierung der gesellschaftlichen Ordnung angelegt, wie sich das die offizielle Politik wünscht, sondern auf deren Sprengung. Womit wir wieder bei der Kuh wären. Rosa heißt sie übrigens.
Lisa Mayr ist Politikwissenschafterin und Chefredakteurin des ÖH-Magazins Progress.