Clowns: Frei und gefährlich
Wie Clowns und Narren mit Humor Machtverhältnisse infrage stellen und Konventionen brechen. Immer schon hatten Clowns und Narren die Aufgabe, Machtstrukturen zu destabilisieren, Konventionen zu brechen und Akzeptanz für menschliche Schwächen und Widersprüchlichkeiten zu schaffen.
Die Bühne ist verdunkelt. Da tritt ein korpulenter Herr im dunklen Anzug mit Krawatte, Brille und Aktenkoffer ins Scheinwerferlicht, mustert mit bedrohlichem Blick Szenerie und Publikum. In der Bühnenmitte eine Art Thron auf einem Podest. Der Künstler erklimmt das Podest, mit dem Rücken zum Publikum. Mit einem Finger gibt er dem Techniker Anweisungen, die Musik – gitarrige Blues-Glissandos – lauter oder leiser zu stellen. Suspense. „In meiner Kindheit gab es weder Fernsehen noch Internet“, sagt er mit der Stimme eines Mafiapaten. „Wir pilgerten jeden Sonntag auf den Hauptplatz, um die Tauben mit Brotkrumen zu füttern. Heute: Internet und Fernsehen. Damals: Tauben und Brot. Wie ich diese Sonntage hasste! Eines Tages hatte ich eine Idee. Ich leerte die Brotkrumen, die meine Familie extra für diesen Zweck die ganze Woche lang aufgespart hatte, auf den Boden. Meine Mutter, entsetzt: 'Leo! Das ist unsere Unterhaltung für den ganzen Sonntag!' In diesem Moment flogen alle Tauben des Platzes zum Missfallen der anderen Familien, die ebenfalls zum Taubenfüttern gekommen waren, zu mir. Da zog ich einen Feuerwerkskörper aus meiner Hosentasche, steckte ihn in ein Stück Brot, zündete ihn an und warf ihn unter die Tauben. Und dann: PAFF! Und plötzlich flogen Taubenteile durch die Gegend, alles war voller Federn, der Himmel färbte sich rot. Und ich sah die Tauben von links nach rechts fliegen und von rechts nach links, aber es waren nicht die Tauben, die von einer Seite zur anderen flogen, sondern mein Kopf, den mein Vater von links nach rechts und von rechts nach links prügelte. Alle auf dem Platz lachten und ermunterten ihn, noch fester zuzuschlagen. In diesem Moment verstand ich, was Macht bedeutet: Das Leiden der einen zur Freude der anderen. Ich verstand, was es bedeutete, Clown zu sein: Das eigene Leiden zu vergessen und die Macht dieser Freiheit zu genießen. Ich war glücklich.“ Plötzlich stoppt die Musik. Leo Bassi dreht sich langsam um, wendet sich zum Publikum: „Aber die Zeiten haben sich geändert. Heute brauche ich keine Tauben mehr. Heute…heute, habe ich euch!“
In diesem Moment Public Enemys „Fight the power“ auf Anschlag, und der ältere Herr im Anzug auf der Bühne beginnt frenetisch zu tanzen. Das Publikum johlt.
Der 65-jährige Leo Bassi ist Clown. Man nennt ihn auch Anarchoclown, den gefährlichsten Clown der Welt. Einer, der schon mal mit gefülltem Benzinkanister den Saal in Brand setzt oder im Ornat des Papstes Gotteslästerliches von sich gibt, sodass vor einigen Jahren spanische KlerikalfaschistInnen eine Bombe in einem Theater deponierten, die gerade noch entschärft werden konnte. Einer, der sich gerne mit Mächtigen anlegt. Einmal wurde er von der Bühne weg verhaftet, nachdem er während eines Auftritts per Telefon einen Bombenalarm ausgelöst hatte. Auf einem Botschaftsempfang in Kanada gab er sich als italienischer Konsul aus – und sprang im Laufe des Abends sehr undiplomatisch in voller Montur in den Pool des Gastgebers, um in der lauen Sommernacht ein paar Schwimmtempi zu wagen. Italien reagierte prompt und sprach dem US-Bürger ein Einreiseverbot in das Land aus, in dem er aufgewachsen war.
Bassis Metier ist die Manipulation. Wie man manipuliert, wie man dem Publikum etwas vorgaukelt, das hat er bereits als Kind im Zirkus gelernt. Von ArtistInnen und ZauberInnen, deren Geschäft im Erzeugen von Illusionen, im Ablenken der Aufmerksamkeit von der Realität besteht. Und indem er manipuliert und vorgaukelt, indem er dabei in die Rolle von PolitikerInnen, BankerInnen und Kirchenfürsten schlüpft, entlarvt er die Manipulationen und Gaukeleien der Mächtigen.
Immer schon hatten Clowns und Narren die Aufgabe, Machtstrukturen zu destabilisieren, Konventionen zu brechen und Akzeptanz für menschliche Schwächen und Widersprüchlichkeiten zu schaffen. Der Clown ist derjenige, der fällt, der scheitert, der verliert...und immer wieder aufsteht. Deshalb lieben wir Clowns wie Charlie Chaplin: Weil sie etwas zeigen, was wir selbst verstecken, wofür wir uns genieren – dass wir selbst, jeder und jede von uns, immer wieder fallen, scheitern, verlieren, ein ganzes Leben lang. Und weil wir uns in ihnen wie in einem Narrenspiegel sehen: In unserer Unfähigkeit, gesellschaftlichen Konventionen, Moralvorstellungen und herrschaftlichen Unterdrückungsmechanismen zu entsprechen. Weil sie uns helfen, in diesem Spiegel über unsere eigene Lächerlichkeit und Fehlerhaftigkeit zu lachen, uns in unserer Verletzlichkeit zu akzeptieren und die Angst vor dem Verlust sozialer Anerkennung – vor Konkurrenzdruck, Schönheitsidealen, Perfektionsansprüchen – zu verlieren. Und weil wir, wenn wir diese Ängste verloren haben, frei und gefährlich für jene werden, die von diesen Ängsten profitieren.
So mischten sich etwa die „heiligen“ Clowns der nordamerikanischen Hopi, die Chühü’wimkya, bei Ritualen unter die TänzerInnen und stifteten Verwirrung, indem sie deren Bewegungen nachäfften, sangen dabei obszöne Lieder, tranken literweise menschlichen Urin und vergnügten sich und das Publikum in exzentrischer Weise. Respektlos karikierten sie geistliche und weltliche Würdenträger, reglementierte Verhaltensweisen und Machtsymbole – und genossen dabei hohes Ansehen, weil sie mit ihrem Humor die Angst vor Krankheiten, vorm Scheitern an gesellschaftlichen Ansprüchen und vor der eigenen Unzulänglichkeit heilten.
Gemeinsam ist indigenen Clowns und Narrenfiguren aller Kontinente, dass sie sich die Freiheit herausnahmen, auch Mächtigen gegenüber die unverblümte Wahrheit zu sagen und Dinge zu tun, die als unzulässig und sittenwidrig angesehen werden. In vielen Völkern ergingen sie sich in obszöner Ausdrucksweise, zeigten hemmungslose Sexualpraktiken und trugen überdimensionale Nachbildungen von Phallus und Vulva. Männliche Clowns, die in Frauenkleider und Frauenrollen schlüpften oder sich anderen Männern erotisch annäherten, verwiesen auf die Möglichkeit des Anders-Seins inmitten moralischer Kodizes traditioneller patriarchaler Gesellschaften.
Als um 220 vor Christus Kaiser Qin Shihuangdi die chinesische Mauer ausbauen ließ, fielen unzählige ZwangsarbeiterInnen dem Monsterprojekt zum Opfer. Der kaiserliche Hofnarr Yu Sze gilt noch heute als Nationalheld, da er den Herrscher davon abbrachte, die Mauer anstreichen zu lassen, was weitere Tausende Todesopfer gekostet hätte. Angeblich rollte er sich, tränenüberströmt vor Lachen, auf dem Boden, als Qin sein grandioses Vorhaben verkündete, sodass selbst der Kaiser über das absurde Ausmaß seines Planes lachen musste und diesen aufgab. Eine andere Geschichte lautet, dass Yu Sze seinen Penis auf die Mauer gemalt habe, worauf ihm der Kaiser befahl, die Bemalung der gesamten Mauer mit weißer Farbe allein zu komplettieren. Darauf antwortete Yu Sze, dass er dies nicht könne, da er farbenblind sei.
Was gute Clowns zuallererst lernen, ist die Akzeptanz der eigenen Lächerlichkeit und Widersprüchlichkeit, des Scheiterns, der Imperfektion.
Im europäischen Mittelalter war der Hofnarr nicht nur der Einzige, der dem König die Wahrheit sagen durfte: Sogenannte Narrengesellschaften vollführten sogar in Kirchen sexuell ausschweifende Rituale, bis das blasphemische Treiben von den Päpsten untersagt wurde. Wie lässt Umberto Eco seinen frommen, aber mörderischen Bibliothekar in „Der Name der Rose“ sagen, der das verschollen geglaubte Zweite Buch der Poetik von Aristoteles über die antike Komödie vor dem Zugriff der Öffentlichkeit bewahrt? „Das Lachen ist ein Zeichen der Dummheit. Wer lacht, glaubt nicht an das, worüber er lacht, aber er hasst es auch nicht. Wer also über das Böse lacht, zeigt damit, dass er nicht bereit ist, das Böse zu bekämpfen, und wer über das Gute lacht, zeigt damit, dass er die Kraft verkennt, dank welcher das Gute sich wie von selbst verbreitet. Gewiss, wer solche äußerst gefährlichen und gewagten Ideen billigt, mag auch das Spiel des Narren genießen, der sich lustig macht über Dinge, von denen man nur die ein für allemal offenbarte Wahrheit zu wissen hat. Aber so lachend sagt der Narr implizit: Deus non est. Gott existiert nicht.“
Auch der erfolgreichste Clown der Geschichte, Charlie Chaplin, nutzte seine Narrenfreiheit immer wieder, um gesellschaftliche Verhältnisse, Diktatur und Unterdrückung zu kritisieren, indem er sie ins Absurde verkehrte – denken wir etwa an seinen ersten Tonfilm „Der große Diktator“, in dem er in die Rolle des deutschen Reichskanzlers Adolf Hitler schlüpft und diesen mit einer berührenden Rede für Mitmenschlichkeit karikiert. Chaplins Rolle war der Tramp, der immer wieder mit dem Gesetz, der Polizei und anderen Autoritäten in Konflikt kam. Er verkörperte den permanenten Loser, der die Erfüllung seiner Sehnsüchte immer wieder von Neuem versucht, und verlieh damit dem menschlichen Scheitern – an sich selbst und an den sozialen Bedingungen – etwas zutiefst Würdevolles und Ermutigendes. Wegen seiner antiautoritären und antimilitaristischen Haltung, aber auch wegen seines „unmoralischen“ Lebenswandels wurden ihm in den USA „kommunistische Umtriebe“ vorgeworfen und schließlich die Wiedereinreise verweigert.
Leo Bassi, Charlie Chaplin, der russische Clown Wladimir Durow, der den deutschen Kaiser Wilhelm karikierte, indem er ein dressiertes Schwein einem Helm nachjagen ließ („Schwein will Helm!“), Dario Fo, Jango Edwards – die Liste jener Clowns mit Weltruhm, die wegen ihres subversiven Humors und ihres unbedingten Einsatzes für die Menschlichkeit mit Gesetz und Behörden in Konflikt kamen, ist lang. Sie alle ermutigen ihr Publikum immer wieder, die eigenen Ängste zu besiegen und sich Unterdrückungsmechanismen zu widersetzen.
Was gute Clowns zuallererst lernen, ist die Akzeptanz der eigenen Lächerlichkeit und Widersprüchlichkeit, des Scheiterns, der Imperfektion. Sie halten der Gesellschaft und den Mächtigen einen Spiegel vor und reflektieren damit soziale und individuelle Widersprüche, das Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung, das menschliche Unvermögen, in einer reglementierten, hierarchisch geordneten und mit von oben diktierten moralischen Ansprüchen aufgeladenen Welt zu bestehen. Und setzen diesen Ansprüchen ihre triebhafte, von Empathie und Verletzlichkeit getragene pure Menschlichkeit entgegen, die keine Regeln und Konventionen kennt. Wenn wir über Clowns lachen, dann lachen wir zuallererst über uns selbst, unsere unterdrückten Bedürfnisse – und dieses Lachen befreit von den inneren und äußeren Zwängen, die wir und die Gesellschaft uns auferlegt haben. Das ist es, was Clowns so gefährlich macht – und warum sie zurecht geliebt und gefürchtet werden.
Autor:
Klaus Werner-Lobo lebt als Autor, politischer Aktivist und darstellender Künstler in Wien. In Workshops zeigt er, wie wir die Angst vorm Scheitern und der eigenen Lächerlichkeit verlieren. Soeben ist bei Benevento sein Buch „Frei und gefährlich – Die Macht der Narren“ erschienen.
Foto: ©Paul Sturm
Buch:
„Frei und gefährlich – Die Macht der Narren“
von Klaus Werner-Lobo
Verlag Benevento, Oktober 2016
ISBN: 978-3710900082
240 Seiten, Hardcover, € 24,00